Yoga Helmuth Maldoner Karlsruhe - Spirituelles
Yoga-Institut Helmuth Maldoner Karlsruhe

Spirituelles

 

Biographie: Shrî Swâmî Nârâyanânanda Mahârâj

Persönliche Anmerkungen von Helmuth Maldoner

Der Ur-Yoga in seiner reinsten Form

Die Essenz der Bhagavad-Gîtâ

Der Friedensmantra »purnam adah«

Bhaja-Govindam

Die Essenz des Yoga

Der Guru und das Geheimnis der Geheimnisse

Gurvashtakam

Nirvâna-Shatkam

»Erhebe dich! Erwache!«

Der entscheidende Satz

Höhere Ebenen …

Will der Mensch nicht frei sein?

»Om – Verehrung den strahlenden Gurus!«

Nicht-Selbst und Selbst

Intelligenz ist Unwissenheit

Der Sinn der menschlichen Geburt

Des Himmels Weg

Meine Geschichte mit dem Meister

 

Biographie: Shrî Swâmî Nârâyanânanda Mahârâj

shrî = »Licht/Glanz verbreitend, Herrlichkeit, Schönheit, Glück, Würde, Heiligkeit«; ehrfurchtsvolle Anrede einer Gottheit, eines Heiligen oder einer Person in sehr hohem Stand • swâmî = Mönch, Meister (wörtl. »Herr seiner selbst«). In der Regel heisst es »Swamiji«, -ji ist eine Nachsilbe als Ausdruck der Zuneigung ist • nârâyana = Gott (nârâ = Menschen; ayana = das Gehen: »Ziel der Menschen«) • ânanda = »Seligkeit« • mahârâj = »großer König« (mahâ-râja).

Es werden abwechselnd beide Schreibweisen verwendet, → Shrî Swâmî Nârâyanânanda Mahârâj und → Shri Swami Narayanananda Maharaj.

 

Shrî Swâmî Nârâyanânanda Mahârâj
[1902–1988]
©N.U.Yoga Trust Gylling

 

Shrî Swâmî Nârâyanânanda (12. April 1902 – 26. Februar 1988) wurde in Kongana im Distrikt Coorg (Kurg, Kodagu), Karnataka State, Südindien in einer hochangesehenen Familie geboren. Die Eltern bekamen das Kind nach vielen Jahren der Buße, des Fastens, der Gebete und der Opfergaben an die örtlichen Gottheiten. Daher empfanden sie eine sehr tiefe Liebe zu ihrem ungewöhnlich gutaussehenden Sohn, der zum Blickfang aller Augen im Dorf wurde. Sie nannten ihn Nanjunda, das ist einer der vielen Namen von Gott Shiva mit der Bedeutung »Gift-Esser« (nanju, Gift), weil Shiva das von den Dämonen im kosmischen Ozean erschaffene tödliche Gift Halâhala trank, um dadurch die Welt zu retten.

Nanjunda hing sehr an seinen Eltern, doch als er im Alter von fünf Jahren zur Schule weggeschickt wurde, fühlte er sich unbesorgt und ging leichten Herzens. Als Junge war er ein aktiver und vielseitiger Schüler, gut im Lernen und auffällig auf dem Sportplatz. Er vertrat seine Schule oft auf Turnieren und schnitt rühmlich ab.

Trotz all seiner Aktivitäten pflegte Nanjunda bereits als Junge jeden Morgen und jeden Abend jeweils eine halbe Stunde lang zu meditieren, ohne dass irgendjemand ihn dazu angeleitet hätte. Er war keinem Mönch oder Guru begegnet und er gehörte keiner bestimmten spirituellen Institution an. Tatsächlich hatte er niemanden, der ihn führte; die Tendenz zu einem meditativen Leben war ihm angeboren. Die regelmäßigen und systematischen Meditationen brachten ihm schon in jungen Jahren Zustände von Trance und tiefer Konzentration des Geistes.

Nach Abschluss seines Studiums entschied sich Nanjunda nicht für ein Eheleben. Stattdessen entsagte er im Alter von siebenundzwanzig Jahren der Welt und wurde Mönch. Sein Verzicht war vollständig. Nicht, daß sein Leben ein Misserfolg gewesen wäre. In seinem normalen Leben zuhause hatte er alle Annehmlichkeiten. Er hatte keinerlei Probleme und keinerlei Entbehrungen, eine glänzende Karriere stand ihm offen. Der Grund war, dass sich sein Geisteszustand völlig verändert hatte. Als er eines Tages wie gewohnt zur Meditation saß, verspürte er mehr als eine Stunde lang eine sehr tiefe geistige Konzentration. Als dieser hohe Zustand vorüber war, hörte er seine innere Stimme, die ihn aufrief, der Welt zu entsagen und Mönch zu werden.

Er entschloss sich augenblicklich dazu, verlor keine Zeit, verschenkte Sein Hab und Gut, verteilte sein gesamtes Privatvermögen bis zur letzten Rupie.

Am 5. September 1929 vollzog Nanjunda gewisse Rituale (Pûjâ und Homa) und verteilte Essen an die versammelten Dorfbewohner. Mental legte er ein Zölibatsgelübde ab und schwor, immer die Wahrheit zu sagen. Er beschloss auch, dass er nie wieder Geld anfassen würde. Er rasierte sich den Kopf, nahm ein ockerfarbenes Mönchsgewand aus den Händen seiner Mutter und fiel auf die Knie, um allen älteren Menschen Ehre zu erweisen, die bei ihm waren.

Nachdem er den Dorfbewohnern eine kurze Rede über den Sinn des Lebens hielt und den Grund für seine Entscheidung, der Welt zu entsagen, erläuterte, verließ er sein Heim auf der Suche nach einem Guru, den er schließlich in Belur Math bei Kalkutta in Shri Swami Shivananda Mahapurush (1854–1934) fand, einem direkten Schüler von Shri Ramakrishna Paramahamsa (1836–1886). Von ihm bekam er den Mönchsnamen Swami Narayanananda (Nârâyan-ânanda).

Shrî Râmakrishna Paramahamsa

Shrî Swâmî Shivânanda Mahâpurush

Fast vier Jahre lebte Swâmî Nârâyanânanda in verschiedenen Âshramas der Râmakrishna-Mission; während dieser Zeit hielt er sich strikt an die Durchführung der geistigen Übungen und empfand immer stärker den Drang, in der Einsamkeit noch intensiver zu praktizieren. Ein großes Verlangen nach Gottverwirklichung erfaßte ihn.

So kam es zwangsläufig, dass sein Guru ihn eines Tages (Oktober 1932) zu sich rufen ließ und in einer Eingebung zu ihm sagte, er solle nun in den Himâlaya ziehen, um den Samâdhi (die Erleuchtung) zu erlangen.

Angesichts der mächtigen, schneebedeckten Gebirgskette des Himâlaya fühlte sich Swami Narayanananda euphorisch und begann mit strengstem Tapasya (Askese). Er arbeitete unermüdlich, mit 12–16 Stunden täglichem Mantra-Japa und Meditation, mit nur zwei Stunden Schlaf, aber oft verbrachte er tage- und nächtelang ohne Schlaf, ohne Ruhe oder Erholung.

Die intensive Praxis wurde schon nach kurzer Zeit belohnt. Swami Narayanananda ging in der Shivarâtrî-Nacht Ende Februar des Jahres 1933 in den Nirvikalpa-Samâdhi oder Nirvâna, den höchstmöglichen Bewusstseinszustand ein. Shivarâtrî ist das Fest zu Ehren von Gott Shiva, welches in Indien die ganze Nacht hindurch in Verehrung und Anbetung verbracht wird.

In dieser heiligen Nacht saß Swami Narayanananda wie üblich um Mitternacht in Meditation. Mit tief konzentriertem Geist spürte er das volle Aufsteigen der Kundalinî-Shakti zum Sahasrâra-Chakra. Sein Herzschlag und Seine Atmung stoppten automatisch. Die Körperidee verschwand und er spürte, wie sein Geist zusammen mit Ego, Willen, Gedächtnis, Intellekt vollständig in der Unendlichkeit versank und das individuelle Bewusstsein mit dem All-Einen verschmolz. Dies war die Erfahrung des formlosen Aspekt Gottes, des alldurchdringenden Bewusstseins.

Swami Narayanananda blieb lange Zeit im Zustand des Nirvikalpa-Samâdhi. Dann kehrte sein Geist langsam auf die Ebene des relativen Bewusstseins zurück. Doch nun hatte sich sein Blickwinkel völlig verändert. Nachdem er die volle Erleuchtung erlangt hatte, gab es in seinem Geist keine Spur von Unwissenheit mehr, und er nahm überall hinter allen Namen und Formen das eine Selbst wahr, sah die göttliche Einheit in der universellen Vielfalt.

Selbst nach dieser seltenen Errungenschaft lebte Swami Narayanananda weiterhin das einfache Leben in Abgeschiedenheit im Himâlaya. Er nahm keine Schüler an und kümmerte sich auch nicht um Geld oder körperliche Annehmlichkeiten.

Nach dem Tode seines Gurus löste Swami Narayanananda im Jahre 1936 die Verbindung zur Râmakrishna-Mission und lebte viele Jahre in der Einsamkeit. Auf solche Weise unbeachtet und ungestört von der Welt, vertiefte er sich in Studien über den Geist und schrieb seine bahnbrechenden Erkenntnisse auf dem Feld der Yoga-Psychologie nieder.

Swâmî Nârâyanânanda 1944 im Himâlaya
am Ufer der Bhâgîrathî (Oberlauf des Ganges)
©N.U.Yoga Trust Gylling

Erst im Jahre 1947, als die Unabhängigkeit Indiens zur Spaltung des Landes führte und es zu furchtbaren Massakern zwischen Hindus und Moslems kam, gab Swami Narayanananda seine Zurückgezogenheit auf, um der verirrten Menschheit zu helfen – die »Universale Religion« war geboren. Er begann Schüler anzunehmen (die ersten waren Hindu-Flüchtlinge aus Pakistan) und veröffentlichte nach und nach seine Schriften. So wurde Swami Narayanananda im Laufe der Zeit als spiritueller Führer in den Herzen Seiner Anhänger in Ost und West inthronisiert.

Anfangs wollte Swami Narayanananda weder eine Organisation noch Âshramas. Im Laufe seines Lebens als Mönch sammelte er nie Spenden. Auf seine eigene einfache Weise lebend, mied er das Rampenlicht der Öffentlichkeit. Im Laufe der Zeit erhöhte sich aber die Anzahl der Schüler dermaßen, dass es unvermeidbar wurde die Bewegung in einer Institution zu organisieren. So wurde im Jahr 1967 der »N.U. (= Narayanananda Universal) Yoga Trust« gegründet.

Swâmî Nârâyanânanda ca. 1960 in Rishikesh
©N.U.Yoga Trust Gylling

Zu dieser Zeit kamen junge Suchende aus dem Westen, vor allem aus Dänemark, mit dem Weisen in Kontakt. Nach ihrer Rückkehr aus Indien bauten sie in Gylling auf Jütland einen Ashram auf, um dort ein Leben in Arbeit und Meditation zu verbringen.

Im Jahr 1971 verließ Swami Narayanananda erstmals indischen Boden und kam zu Besuch nach Gylling. Von nun an bis 1987 reiste er jedes Jahr für mehrere Monate nach Dänemark (und einige Male nach Deutschland), wo Tausenden von Wahrheitssuchern die Gelegenheit zur Begegnung geboten wurde.

Der Gylling-Ashram ist das Weltzentrum des N.U.Yoga Trust. Weitere Ashrams gibt es in Indien, Deutschland, Schweden, Norwegen, USA. Die Mönche und Nonnen des von Swami Narayanananda errichteten zölibateren Ordens verdienen ihren Lebensunterhalt selbst und bemühen sich, »ein einfaches, reines, heiliges Leben« nach den Prinzipien des Meisters zu führen.

Shri Swami Narayanananda – Gründer der Universalen Religion

Dies steht in klarem Zusammenhang mit den oben kurz erwähnten Vorgängen von 1947. Dazu sagte der Meister:

»All die schändlichen Dinge die getan wurden … sind unbeschreiblich. In aller Kürze können wir sagen, dass diese Leute schlimmer waren als Bestien. All diese Dinge geschahen im Namen Gottes, der Religion, der Rasse und Farbe, und aus Mangel an einem klaren Verständnis von Gott und Religion. Angesichts dieses schrecklichen Elends und der Ignoranz der Menschen schmolz gleichsam das Herz von Swami Narayanananda, und diese Ereignisse brachten Ihn dazu, Seine Zurückgezogenheit aufzugeben und Bücher zu schreiben. Und diese Ereignisse sind die Ursache der Fundamentlegung für die Universale Religion.«

Die Universale Religion

wurzelt in Swami Narayananandas eigener Erfahrung der letzten Wahrheit; eine Wahrheit, die jedem Menschen zugänglich ist. Mit seinen Worten:

»Hilf einem Menschen von dort aus, wo er steht. Ergänze, ohne zu verdrängen, das ist das Motto der Universalen Religion. Diese Religion, ›Universal‹, hat keinen Streit mit irgendeiner Sekte, Konfession, Doktrin, Dogma oder Geschlecht. Sie befasst sich mit der höchsten Art der Philosophie, die praktisch ist, nicht spekulativ. Diese Philosophie hält leicht der strengen Prüfung der Naturwissenschaft stand. Sie hat Liebe und Sympathie für alle, unabhängig von Stand, Glauben, Hautfarbe und Geschlecht.«

Die Schriften

Mit seinen Schriften hinterließ Swami Narayanananda der leidenden Menschheit einen unermesslichen Schatz. Es gibt 12 Haupt- und 24 kleinere Werke. Von den ins Deutsche übersetzten Hauptwerken (die englischen Originale sind prinzipiell jeder Übersetzung vorzuziehen) seien an dieser Stelle erwähnt: 

Als Einstieg wird Das Geheimnis der Geisteskontrolle empfohlen. In unerreichter Klarheit führt hier der Meister in die Welt des Yoga (Lehre, Prinzipien, Techniken, Psychologie). Auffallend sind die ständigen Hinweise auf Irrtümer und Gefahren, denen man auf dem geistigen Pfad ausgesetzt ist. Dieser besondere Aspekt der Lehre von Swami Narayanananda zeugt von höchster Verantwortung, »echte Sâdhakas (aufrichtig geistig Strebende) auf dem rechten Pfad zum letzten Ziel zu führen«, so seine eigenen Worte in der Geisteskontrolle.

Als zweites liest man das wundervolle Der Weg zur Erleuchtung.

Diese beiden stellen die Grundlage dar; die anderen Schriften behandeln jeweils spezielle Themen; so geht es etwa in Der Weg zu Frieden, Kraft und langem Leben einzig um Brahmacharya (Enthaltsamkeit).

Wer die Werke des Weisen, die weltweit besten zu den Themen Yoga und Religion nicht kennt, der kann nicht behaupten über den wahren Yoga Bescheid zu wissen.

♦ ♦ ♦

Übersicht sämtlicher Werke von Swami Narayanananda in der Reihenfolge des Erscheinens der 1. Auflage:

  1. The Way to Peace, Power and Long Life (1945)
  2. The Primal Power in Man or The Kundalini Shakti (1950)
  3. The Ideal Life and Moksha (1951)
  4. Revelation (1951)
  5. The Mysteries of Man, Mind and Mind-Functions (1951)
  6. The Secrets of Mind-Control (1954)
  7. The Gist of Religions (1955)
  8. A Practical Guide to Samadhi (1957)
  9. Mind, Its Source and Culture (1958)
  10. The Secrets of Prana, Pranayama and Yoga-Asanas (1959)
  11. Brahmacharya, Its Necessity and Practice for Boys and Girls (1961)
  12. The End of Philosophy or The Ultimate Truth & The Universal Religion (1962)
  13. Caste, Its Origin, Growth and Decay (1955)
  14. A Word to Sadhaka (1955)
  15. Sex-Sublimation (1955)
  16. The Basis of Universal Religion (1963)
  17. God and Man (1965)
  18. Wisdom (1971)
  19. Your Birth-Right (1973)
  20. The Aim of Life (1974)
  21. The Universal Religion (1975)
  22. Your Hidden Treasures (1977)
  23. Brahman and the Universe (1978)
  24. Birthday Messages 1955-79 (1979)
  25. Questions and Answers (1979)
  26. The Essence of Life (1980)
  27. Religion and Philosophy (1980)
  28. Life Behind Death (1980)
  29. Within you (1981)
  30. India and the Rishis (1981)
  31. Brain, Mind and Consciousness (1982)
  32. Consciousness under Different States (1982)
  33. Reality Behind Life (1983)
  34. God or the Ocean of Consciousness by Itself or in Itself (1983)
  35. God, Kundalini Shakti and Mind (1984)
  36. Truth Eternal (1984)

[1–12 = Hauptwerke; 13–36 = kleinere Schriften]

Diese Aufzählung bezieht sich auf die Ausgabe von The Complete Works of Swami Narayanananda (1979–1984). Eine zweite Ausgabe von The Complete Works of Swami Narayanananda erschien 2001–2002 in 18 Bänden. Die kleineren Werke (Bände 13–36) wurden hier in drei Bänden zusammengefasst (Kleine Werke I–III, Bände 13–15), und die folgenden Bände wurden hinzugefügt: Band 16: «Birthday Messages, Poems and Consolations»; Band 17: «Selected Articles 1933–1986»; Band 18: «Autobiography of Swami Narayanananda» (hier in einem Band – zuvor separat in zwei reich illustrierten und kommentierten Bänden erschienen).

♦ ♦ ♦

»Das letzte Foto«
Shrî Swâmî Nârâyanânanda, Gylling 1987

©N.U.Yoga Trust Gylling

Shrî Swâmî Nârâyanânanda Mahârâj verließ diese Welt am 26. Februar 1988 im südindischen Maisûru (Mysore, Karnataka State), in der Nähe seines Geburtsortes.

Im Stillen zu leben, Ruhm, Macht und Reichtum verwerfend, aus reinem Erbarmen Wissen zu verbreiten, Wahrheitssucher zu inspirieren und zu führen – und am Ende unbemerkt seitens der Welt von dannen zu gehen, das sind die Zeichen erhabenster Größe und Heiligkeit.

 

 

Das Vermächtnis von Shrî Swâmî Nârâyanânanda Mahârâj lautet:

»Die Letzte Wahrheit wird Gott genannt.

Dies kann man im Zustand des Nirvikalpa-Samâdhi verwirklichen.

Ein Kreis kann nur ein Zentrum, aber zahlreiche Radien haben.

Das Zentrum kann mit Gott verglichen werden und die Radien mit den Religionen.

Also kann keine Sekte, keine Religion oder Buch einen absoluten Anspruch darauf erheben.

Wer sich diese Wahrheit erarbeitet erlangt sie.«

 

»Verliere niemals die Hoffnung. Sei voll von hohen Hoffnungen und halte dich an hohe Ideale. Habe unendlichen Glauben – Glauben an dich, Glauben an Gott, Glauben an die Worte deines Meisters und Glauben an die Heiligen Schriften. Schaue niemals auf dich herab. Grüble niemals über deine Schwächen, Nachteile, Sünden und Abstürze. Bist du heute ein Sünder, kannst du morgen ein Heiliger sein, wenn du nur willst. Selbstvertrauen wird dich mit unendlicher Kraft und Stärke füllen. Gute Gedanken und edle Taten werden dich groß machen; unrechte Wünsche, Gedanken und Handlungen lassen dich tiefer sinken. Die Welt ist nichts als eine Projektion deines eigenen Geistes. Wie du denkst, so wirst du.«

 

»Die seltene Geburt als Mensch, eine günstige Umgebung, die geheiligten Füße des Gurus, der rechte Pfad, die rechte Führung, ein klarer Intellekt und aufrichtiges Bemühen – was willst du noch, mein Kind? Was fürchtest du, mein Liebes? Erhebe deinen Geist hoch, höher als die höchsten schneebedeckten Berge. Mache deinen Charakter stark und fest wie den Himâlaya. Tauche tief, tief bis auf den Grund des Ozeans von Sat-Chit-Ânanda (Sein, Bewusstsein, Seligkeit) und sei für immer frei.«

zurück an den Anfang

 

Persönliche Anmerkungen von Helmuth Maldoner

Wenn die Werke von Swami Narayanananda, wie oben erwähnt, die weltweit besten zu den Themen Yoga und Religion sind, warum weiß angeblich niemand davon? Yoga-Lehrer und -Autoren kennen zumindest »Die Urkraft im Menschen«, welches als Standardwerk gilt. Dennoch wird Swami Narayanananda in 999 von 1000 Yogabüchern nicht erwähnt, er ist in praktisch keinem Literaturhinweis zu finden; dies ist dermaßen ungewöhnlich, dass der Gedanke an methodisches Verschweigen nicht abwegig ist.

Unsere Gesellschaft ist nach wie vor nicht bereit, bestimmte Dinge zu hören. Ein Erleuchteter beugt sich nicht dem Zeitgeist, er steht kompromisslos in der höchsten Wahrheit. Den Ur-Yoga (jener der Upanishaden, des Mahabharata, der Âgamas), den wahren Yoga in seiner Strenge, das Festhalten an ewig gültigen ethischen Prinzipien kann eine moderne Yogawelt nicht akzeptieren. Die Bedeutung von Brahmacharya, Hauptpfeiler der Lehre von Swami Narayanananda, wird heruntergespielt oder verschwiegen. Viele kennen hier den Zusammenhang mit der Spiritualität nicht, oder sie weisen bewusst nicht darauf hin; wer heute Enthaltsamkeit predigt hat sehr wenige Anhänger und Freunde. Weiter: Überall wird der Pranayama öffentlich gelehrt (gegen die alten Vorschriften); der einfachste Yogalehrer, selbst noch ein Suchender, weiht »Schüler« in die Meditation ein (gegen die alten Vorschriften); das im modernen Yoga beliebte Geistheilen lehnte Swami Narayanananda als gefährlichen Missbrauch übernatürlicher Kräfte ab. Und noch andere Aspekte.

Auch seine kristallklare, zwingende Yoga-Psychologie wollen die meisten nicht verstehen. Im Vorwort von »Die Urkraft im Menschen« (erschienen 1950) schrieb der Weise:

»Meine Erklärung des Geistes, des Gedächtnisspeichers, der Wünsche und Gedankenfunktionen mag vielen neu und fremd erscheinen, und viele mögen mir nicht zustimmen. Es mag sein, dass ich jetzt der einzige bin, der diese Wahrheit verkündet. Das beunruhigt mich aber nicht im geringsten. Denn die Wahrheit bedarf keiner Stütze und kann nicht lange verborgen bleiben. Wenn die Welt nicht bereit ist, die Wahrheit jetzt zu hören, so wird sie es in späteren Jahren tun müssen.«

Bei YouTube gibt es ein kurzes Video [→ Link] in dem ein junger Inder einige Buchcover von Swami Narayanananda vorstellt. Mit dem Hinweis: »Weisheit von einem großen Yogi und Jñani. Jedes Wort ist eine kostbare Perle.« Ein Kommentator schreibt dazu: »Ich habe einen kompletten Satz Seiner Bücher. Jedes Wort von Ihm ist in der Tat eine wertvolle Perle. Es ist eine Tragödie, dass Er und Seine große Weisheit in Vergessenheit geraten sind.« Ich verneige mich vor diesen jungen Menschen.

Persönliche Anmerkungen von Helmuth Maldoner, Teil 2

Es ist höchst bedauerlich dass der dänische Gylling-Ashram – das Weltzentrum des Narayanananda Universal Yoga Trust und Inhaber der Urheberrechte – die Werke von Swami Narayanananda vom Verkauf zurückgezogen hat, man kann sie zur Zeit nur antiquarisch erwerben. Der deutsche Ashram agiert im Einklang mit Gylling ebenso. Der dänische Ashram ist offiziell nur als Druckerei für hochwertige Bücher bekannt, der deutsche Ashram betreibt Europas größten Verlag für Homöopathiebücher. Schön und gut – aber auf beiden Webseiten ist vom Yoga, von Swami Narayanananda und von seinen einzigartigen Werken nichts zu sehen. Begründet wird das in etwa so: »Die Welt ist noch nicht reif für die Botschaft des Meisters, die Menschen können seine Lehre nicht verstehen.«

Mir ist es nicht möglich, diese Begründung nachzuvollziehen.

Swami Narayanananda veröffentlichte sein erstes Werk, »Der Weg zu Frieden, Kraft und langem Leben« im Jahr 1945. Zahllose Wahrheitssucher in einer verzweifelten Welt sehnen sich bewusst oder unbewusst nach dem Evangelium der Universalen Religion. Ich glaube nicht dass es im Sinne von Swami Narayanananda ist, seine befreiende Botschaft zu verbergen. Den Beweis für diese Behauptung sehe ich im Vorwort des genannten Buches, in dem seine eröffnenden himmlischen Sätze lauten:

»Ich sende diese Schrift in die weite Welt. Ich sende sie mit all meinen besten Wünschen und meiner Liebe aus. Möge sie Zugang zu jedem Winkel und jeder Ecke dieses Universums finden! Möge Er aus Seiner unendlichen Liebe und Barmherzigkeit heraus den leidenden Millionen durch dieses kleine Buch Führung und Trost geben. Ich bin sicher, dass diese bescheidene These von mir einen warmen Platz in den Herzen aller wahrheitsliebenden Männer und Frauen finden wird, ungeachtet der Glaubensbekenntnisse, Sekten und Kasten.« [Swami Narayanananda. The Way to Peace, Power and Long Life. Vorwort]

Das Verhalten des Gylling-Ashrams ist unnatürlich. Als natürlich sehe ich, um ein Beispiel zu nennen, die folgende Aussage eines Vaishnava-Gurus, Shri Bhaktivedanta Nara­yana Goswami Maharaj (†2010). Er hinterließ seinen Schülern unter anderem diese Worte: »Ich möchte dass meine Bücher ver­teilt werden und nicht in einem kalten Lager liegenbleiben. Ich möchte dass in regel­mä­ßigen Abständen Tau­sende von Büchern vom Drucker kommen und sogleich ver­teilt und wieder neu gedruckt werden. Mein Beitrag für die jetzige und zukünftige Generationen ist in erster Linie in den Büchern verkörpert, die ich schreibe und übersetze. Sie sind mein Vermächtnis.«

In der Biographie (oben) von Swami Narayanananda wurde angemerkt: »Mit seinen Schriften hinterließ Er der leidenden Menschheit einen unermesslichen Schatz.« Sie sind SEIN Vermächtnis.

Persönliche Anmerkungen von Helmuth Maldoner, Teil 3

Nicht nur besitzt der N.U.Yoga-Ashram Gylling die Urheberrechte an den Werken von Swami Narayanananda. Auf dem Ashramgelände stehen überdies das Guru-Kutir (kutira, n. = Hütte), die Wohnstätte des Meisters während seiner Aufenthalte in Dänemark; das Mantra-Kutir mit einem Kristall in einem großen Granitblock, in dem der Heilige seine Kraft hinterließ; schließlich das Narayana-Kutir mit den Schriften und den persönlichen Gegenständen des Weisen. Eine Pilgerstätte für alle Wahrheitssucher, die eine innere Verbindung zu Shri Swami Narayanananda fühlen und suchen.

Leider hat die Leitung des Ashrams beschlossen, dass das Tor verschlossen bleibt, es gibt momentan keine Möglichkeit des physischen Kontakts zur Pilgerstätte. Wahrheitssucher, die eine Mantra-Einweihung wünschen, werden auf einen undefinierten späteren Zeitpunkt vertröstet.

Warum ich das nicht verstehen kann erklärt sich am Beispiel der Ramakrishna-Mission (Belur Math, Bengalen, Indien). Shri Ramakrishna Paramahamsa verließ diese Welt im Jahre 1886. Seit dieser Zeit wird jedem Wahrheitssucher, der sich zu Shri Ramakrishna hingezogen fühlt, bei der Einweihung ein Mantra im Namen des großen Meisters gegeben. Und so wird es selbstverständlich auch in den Ashramas anderer Richtungen gehandhabt, deren Meister längst nicht mehr hier sind. Dies ist natürlich und normal. Wie soll sich die Menschheit für die Universale Religion erwärmen wenn sie durch das Schweigen Gyllings nicht einmal weiß, dass es einen überragenden Weisen namens Swami Narayanananda gegeben hat? Erneut das Zitat eines jungen Inders: »Es ist eine Tragödie, dass Er und Seine große Weisheit in Vergessenheit geraten sind.« Ich kann nur hoffen, dass sich der gegenwärtige Zustand bald ändern wird.

Persönliche Anmerkungen von Helmuth Maldoner, Teil 4

Das Universum, die Welt, das Leben an sich – das sind alles Rätsel; wir werden sie erst beim Eingehen in den höchstmöglichen Zustand des Bewusstseins gelöst haben, so sagte Swami Narayanananda. Ich durfte die folgenden zwei Sätze des Weisen mit eigenen Ohren hören: »Im Samâdhi wirst du das Rätsel des Lebens gelöst haben.« Und: »Im Samâdhi wirst du wissen, was du immer wissen wolltest.« Unendlich tiefe Worte, die das Ende des leidvollen Kreislaufs der Geburten und Tode bedeuten.

Das größte Rätsel überhaupt, das Geheimnis aller Geheimnisse ist dabei das unbegreifliche Wesen des Gurus. Es ist für uns Normalsterbliche sinnlos sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Auch dieses Geheimnis wird erst mit dem Eingehen in den Samâdhi keines mehr sein. Ich erachte die Aussage von Shri Ramana Maharshi als die hilfreichste insgesamt:

Besucher: »Was ist die Gnade des Gurus? Wie wirkt sie?« Shri Ramana: »Guru ist das Selbst.« Besucher: »Wie führt das zur Verwirklichung?« Shri Ramana: »Îshvaro gururâtmeti … (Gott ist dasselbe wie Guru und Selbst ...). Ein Mensch beginnt mit Unzufriedenheit. Nicht zufrieden mit der Welt, sucht er die Befriedigung der Wünsche durch Gebete zu Gott; sein Geist wird gereinigt; er sehnt sich mehr danach, Gott zu kennen als seine weltlichen Wünsche zu befriedigen. Dann beginnt Gottes Gnade sich zu offenbaren. Gott nimmt die Gestalt eines Gurus an und erscheint dem Verehrer; Er lehrt ihn die Wahrheit; Er reinigt den Geist durch Seine Lehre und den Kontakt; der Geist gewinnt an Kraft, er kann sich nach innen wenden; durch Meditation wird er noch weiter gereinigt und bleibt schließlich still ohne die geringste Wellenbewegung. Diese Stille ist das Selbst. Der Guru ist beides, äußerlich und innerlich. Von außen gibt Er dem Geist einen Anstoß sich nach innen wenden; im Inneren zieht Er den Geist zum Selbst und hilft dem Geist, zur Ruhe zu kommen. Das ist Gnade. Daher gibt es keinen Unterschied zwischen Gott, Guru und Selbst.« [Talks with Sri Ramana Maharshi. Juni 1936, Talk 198]

Bhagavân Shrî Ramana Maharshi


Der Schlüsselsatz lautet hier: »Gott nimmt die Gestalt eines Gurus an und erscheint dem Verehrer.« Welcher »menschliche« Guru es ist, dies wird vom Karma des Wahrheitssuchers bestimmt, von seinen Wünschen, Vorlieben und Interessen.

Shri Ramana: »Man kann zu einem anderen Guru gehen, nachdem der eigene Guru verstorben ist. Aber letzten Endes sind die Gurus eins, denn keiner von ihnen ist ›die Form‹. Der geistige Kontakt ist immer der beste. Da der Guru nicht physisch ist, wird sein Kontakt weiter bestehen, nachdem seine Form verschwunden ist. Wenn ein Weiser in der Welt existiert, wird sein Einfluß von allen Menschen in der Welt gefühlt werden oder ihnen zugutekommen, und nicht nur seinen direkten Schülern.«

♦ ♦ ♦

Shri Swami Brahmananda Maharaj (1863–1922) war ein direkter Schüler von Shri Ramakrishna und späterer Präsident des Ramakrishna Math (Ramakrishna-Mission). In dem fantastischen Büchlein The Eternal Companion trifft man auf diesen Dialog:

Shrî Swâmî Brahmânanda Mahârâj


Swami Brahmananda: »Betet zu Shrî Râmakrishna. Er lebt noch. Betet zu Ihm: ›Du bist mein und ich bin dein.‹ Verschmelzt mit seinem Bewusstsein, Er wird euch den Weg zeigen.« Schüler: »Aber Maharaj, wollen Sie damit sagen, dass Shri Ramakrishna noch lebt?« Swami Brahmananda: »Natürlich lebt er noch! Bist du verrückt? Wenn Er nicht leben würde, warum sollten wir dann ein solches Leben führen und unser Heim und all unseren Besitz aufgeben? Er IST. Bitte darum, ihn zu sehen und zu kennen. Schütte dein ganzes Herz im Gebet vor ihm aus; Er wird alle deine Zweifel beseitigen und dir seine wahre Natur enthüllen.« Schüler: »Maharaj, sehen Sie Ihn?« Swami Brahmananda: »Ja! Durch Seine Gnade sehe ich Ihn. Jeder kann Ihn sehen, wenn Er Seine Gnade hat. Aber wieviele sind es, die ihn lieben? Wieviele sehnen sich danach, ihn zu sehen?«

♦ ♦ ♦

Ist man erst Schüler, wenn man einen Mantra erhalten hat? Nein. Das wird nicht selten missverstanden, siehe weiter unten. Aber ja, zu Lebzeiten von Swami Narayanananda war dies natürlich, über diese große Gnade braucht nichts weiter gesagt zu werden. Jetzt ist der Meister nicht mehr in dieser Welt, doch Er lebt in den Herzen Seiner Verehrer weiter.

Shrî Swâmî Nârâyanânanda Mahârâj


Schüler: »Würde Guruji mir bitte sagen, ob der Jîvan-Mukta (der Lebend-Befreite), nachdem er den Körper verlassen hat, weiterhin seine Schüler begleiten wird, von einer höheren Ebene der Existenz aus?« Swami Narayanananda: »Wenn der Schüler ihn will, wird er immer mit dem Schüler sein. Wenn der Schüler ihn nicht will, wird er verschwinden.« Schüler: »Dann wird er ewig existieren?« Swami Narayanananda: »Ja, solange der Schüler existiert, wird er existieren. Solange die Schüler ihn nicht vergessen, wird er immer mit ihnen sein.«

♦ ♦ ♦

»Wenn die Menschen an mich denken, bin ich bei ihnen.« [Shri Neeb Karori Baba Maharaj, *?–†1973]

»Wenn du auf mein Bild schaust kann ich dich sehen.«

»Ich saß immer vor diesem Bild in einer Art Meditation, und ich sah Ihn. Ich habe niemandem davon erzählt; ich meine, man geht nicht herum und erzählt den Leuten, dass man mit Bildern spricht, wissen Sie? Und als ich nach Indien kam und schließlich Mahârâj traf, sah Er mich an und sagte: Du hast die ganze Zeit mit meinem Bild geredet! Du hast viele Fragen gestellt!« [eine amerikanische Verehrerin über Shri Neeb Karori Baba Maharaj; aus dem Film Windfall of Grace]

Shrî Nîb Karorî Bâbâ Mahârâj


♦ ♦ ♦

»Auch wenn ich nicht mehr in Fleisch und Blut bin, werde ich meine Verehrer immer beschützen. Ich werde bei dir sein, sobald du an mich denkst.« [Shri Sai Baba von Shirdi, *?–†1918]

»Diejenigen die denken, dass Baba nur in Shirdi ist, haben mich überhaupt nicht erkannt.«

»Wenn du mich ansiehst, sehe ich dich an.«

Shrî Sâî Bâbâ von Shirdi


♦ ♦ ♦

»Selbst nachdem ich den Mahâsamâdhi erlangt habe, werde ich hier sein. Wo immer und wann immer meine Anhänger sich mit reiner Hingabe an mich erinnern, werde ich auch da sein. Wahre Verehrer mit reiner Absicht und gütigem Herzen werden für immer in meinem göttlichen Schoß unter meinem Schutz sein.« [Bhagavan Shri Nityananda von Ganeshpuri, 1897–1961]

Eine weibliche Anhängerin von Bhagavân Shrî Nityânanda ahnte, dass der Heilige vorhatte seinen Körper zu verlassen. Sie begann zu weinen und flehte Nityananda an, nicht zu gehen. Der Meister ermahnte sie: »Warum weinst du? Hör auf damit. Auf der feinstofflichen Ebene ist größere Arbeit möglich als auf der grobstofflichen.«

Bhagavân Shrî Nityânanda


Persönliche Anmerkungen von Helmuth Maldoner, Teil 5

Wenn es heißt, dass bei der Mantra-Einweihung (mantra-dîkshâ) der Guru dem Schüler einen neuen, geistigen Leib (dharma kâya) schenkt, dann ist damit nicht der Mantra gemeint, sondern die Verbindung des Meisters mit dem Schüler anlässlich der Einweihung. Das wird nicht selten missverstanden. Ein Mantra ist kein Selbstzweck, sondern ein Mittel, ein Fahrzeug, es soll dem Wahrheitssucher zur Konzentration verhelfen. Auf einer bestimmten, höheren Stufe der Konzentration wird der Mantra veschwinden und der Geist wird anders weitergezogen in Richtung Ziel.

Der Mantra ist damit vergänglich, aber die Verbindung des Jüngers mit dem Guru ist ewig, sie endet erst mit dem Erreichen des Nirvikalpa-Samâdhi.

Es geht in erster Linie nicht um den Mantra, sondern um die mystische, höchst geheimnisvolle Verbindung Guru-Schüler, eine unbegreifliche Gnade.

»Der Guru und das Geheimnis aller Geheimnisse« → Link

So gesehen ergibt die klassische Feststellung einen Sinn, dass jemand, der sich selber einen Mantra aus Büchern heraussucht, aber eine Verbindung mit einem Guru nicht eingehen will, keinen substantiellen Fortschritt erzielen kann:

»Der Nicht-Eingeweihte mag einen Mantra aussprechen so oft er will: es wird ihm nicht gelingen, auch nur die geringste Wirkung hervorzurufen. Darum können Mantras zu Tausenden in Büchern abgedruckt werden, ohne dass sie ihr Geheimnis preisgeben oder ihren Wert verlieren. Mantras haben Kraft und Bedeutung nur für den Eingeweihten, mit dessen innerstem Wesen sie unlösbar verknüpft sind.« [Lama Anagarika Govinda. Grundlagen tibetischer Mystik]

Ein indischer Merksatz aus alter Zeit lautet entsprechend: »Es gibt keinen spirituellen Yoga ohne Guru.« Mit diesen Worten haben viele Liebhaber des modernen Yoga, die an einer falsch verstandenen Freiheit hängen, große Schwierigkeiten. Echte Spiritualität ist, wie Shri Ramana Maharshi und alle anderen großen Meister es ausdrückten, die Selbsthingabe, das Aufgeben des Ego, die Herzensbindung an den Guru, wer immer das auch in seiner menschlichen Form sein mag.

Persönliche Anmerkungen von Helmuth Maldoner, Teil 6

»Die Beziehung zwischen einem Guru und einem Schüler kann formal sein, oder geistig, oder beides. Ein Suchender, der nach Wahrheit oder Gottverwirklichung strebt, mag zu einem Heiligen gehen, sich von ihm einweihen lassen, ihm dienen und ein formaler Schüler werden, ohne jedoch in der Lage zu sein, seinen Anweisungen oder Lehren zu folgen. Ein anderer Mensch mag nicht zu einem Heiligen gehen. Aber wenn er seine Lehren gelesen hat, sie in die Praxis umsetzt und sein großer Bewunderer wird, wird er sein Schüler im Geiste. Ein dritter Mensch mag zu einem Heiligen gehen, von ihm Anweisungen entgegennehmen, ihm persönliche Dienste leisten und seine Lehren in die Praxis umsetzen. So wird er sowohl formal als auch im Geiste ein Schüler des Heiligen.« [Swami Narayanananda]

Man mache sich mit der Person und mit der Lehre eines Meisters vertraut. Man wähle unter den vielen zugänglichen Bildern eines Heiligen jenes aus, welches das Herz am meisten anspricht. Wie es im Yoga-Sûtra steht konzentriert sich der Geist leicht auf etwas, das man liebt. Man spreche mit diesem Bild, man baue eine innere Verbindung zum Meister auf, von Herz zu Herz, gebe sich Ihm hin, denke ständig an Ihn, bitte Ihn um Hilfe, meditiere über Ihn, folge Seinen Anweisungen. Das andere geschieht dann von selbst. Wer WIRKLICH will, für den öffnet sich der Weg zwangsläufig. Das ist ein Gesetz der geistigen Welt.

surrender = »sich ergeben – aufgeben – sich geschlagen geben – kapitulieren – auf etwas verzichten – sich einer Sache hingeben«. Im spirituellen Bereich bedeutet es »Selbsthingabe« und hat eben in gewisser Weise auch mit »sich ergeben« zu tun.

»Gott hat dich in die Welt gesetzt. Was kannst du dagegen tun? Überlasse Ihm alles. Gib dich Seinen Füßen hin. Dann wird es keine Verwirrung mehr geben. Dann wirst du erkennen, dass es Gott ist, der alles tut.« [Shrî Râmakrishna Paramahamsa]

Shri Ramana: »[...] Nun ja. Was ist Schicksal? Es gibt kein Schicksal. Gib dich hin, und alles wird gut werden. Wirf die ganze Verantwortung auf Gott. Trage die Last nicht selbst. Was kann dir das Schicksal dann antun?« Besucherin: »Selbsthingabe ist unmöglich.« Shri Ramana: »Ja. Eine völlige Hingabe ist am Anfang unmöglich. Eine teilweise Hingabe ist sicherlich für alle möglich. Im Laufe der Zeit wird das zur völligen Hingabe führen. Nun, wenn Hingabe unmöglich ist, was kann man dann tun? Es gibt keinen Seelenfrieden. Du bist nicht imstande ihn herbeizuführen. Er kann nur durch Hingabe erreicht werden.«

Von dem in ganz Indien hochverehrten Heiligen Shri Sai Baba von Shirdi (*?–†1918) stammt der in die Tiefe gehende Ausspruch: »Vertraue voll und ganz dem Guru, das ist das einzige Sâdhana.«


zurück an den Anfang

 

Der Ur-Yoga in seiner reinsten Form

»Ein Mann betete zum Meister, ihm seine Sünden zu vergeben. Ihm wurde gesagt, dass es genügen würde wenn er darauf achtete dass sein Geist ihn nicht beunruhigte.« [Talks with Sri Ramana Maharshi]

Der englische Ausdruck trouble ist eindeutig. Im Deutschen sind mehrere Übersetzungen vorteilhaft. Ein troubled mind ist ein »unruhiger, aufgewühlter, verwirrter, geplagter, betrübter, bedrängter, gestörter« Geist. In diesem Sinne: Warum ist das der Yoga in seiner reinsten Form? Weil er den Menschen auf den Punkt bringt, weil er auf die Essenz der Essenz verweist. Da ist keine Rede von Göttern, Ritualen und Sonstigem, was man gemeinhin als Hinduismus versteht. Das ist die reine Lehre der Upanishaden, Indiens höchste Form der Philosophie.

In den Talks gibt es einen weiteren fulminanten Merksatz, der mit wenigen Worten das Gleiche sagt. Ein Satz wie Blitz und Donner. Ein Besucher wollte den Meister über Gott befragen. Shri Ramana unterbrach ihn sofort mit den Worten: »Lass Gott in Ruhe, denn Er ist unbekannt. Was ist mit dir?«

»Die Welt ist nichts als eine Projektion deines eigenen Geistes. Wie du denkst, so wirst du.« [Shrî Swâmî Nârâyanânanda Mahârâj]

Das ist der Weg des wahren Yoga. Um noch einmal Bhagavân Shrî Ramana Maharshi zu zitieren:

»Die Letzte Wahrheit ist so einfach. Es ist nichts anderes als im Urzustand zu sein. Das ist alles, was darüber gesagt zu werden braucht. Dennoch ist es verwunderlich dass, um diese einfache Wahrheit zu lehren, so viele Religionen, Glaubensbekenntnisse, Methoden und Auseinandersetzungen unter ihnen entstehen mußten und so weiter. Wie bedauerlich, wie bedauerlich! […] Nur der reife Geist kann die einfache Wahrheit in all ihrer Nacktheit begreifen.«

zurück an den Anfang

 

Die Essenz der Shrîmad-Bhagavad-Gîtâ [VIII.5–7]

»Was ist die Essenz der Bhagavad-Gita? Denke immer an Mich, und kämpfe!« [Shri Swami Narayanananda Maharaj]

Die Shrîmad-Bhagavad-Gîtâ ist die Hl. Schrift des Yoga, der universalen Heilslehre; ein für jeden Wahrheitssucher hilfreicher Führer zum höchsten Ziel: »Die Loslösung von der Verbindung mit dem Leiden – dies wird Yoga genannt« [VI.23]. Was sie uns zur Möglichkeit der Erlösung, zur Überwindung »dieser unglücklichen Welt« [IX.33] sagt, ist einzigartig und macht sie zum Buch der Bücher. Mit den Worten Wilhelm von Humboldt ist sie »das Tiefste und Erhabenste, was die Welt aufzuweisen hat«.

Die Essenz der BhGita ist der erste Halbvers 7 des achten Gesanges – tasmât sarveshu kâleshu mâm anusmara yudhya cha. Die Worte werden sofort verständlich, wenn man die BhGita als Ganzes studiert hat. Im anderen Falle präge man sich wenigstens die vorangehenden Verse 5 und 6 ein, denn 5, 6 und 7 gehören zusammen.

antakâle cha mâm eva smaran muktvâ kalevaram |
yah prayâti sa madbhâvam yâti nâsty atra samshayah || 5

Wer in der Stunde des Todes, wenn er, den Körper verlassend, von dannen geht,
an Mich allein denkt, der geht in Mein Wesen ein; darüber gibt es keinen Zweifel! (5)

yam yam vâpi smaran bhâvam tyajatyante kalevaram |
tam tam evaiti kaunteya sadâ tadbhâvabhâvitah || 6

An welchen Seinszustand auch immer er denkt, wenn er am Ende den Körper aufgibt,
zu diesem allein geht er, o Arjuna, (weil er) ständig in (den Gedanken an) diesen Seinszustand vertieft (war). (6) 

tasmât sarveshu kâleshu mâm anusmara yudhya cha |
mayy arpitamanobuddhir mâm evaishyasy asamshayah || 7

Denke darum zu allen Zeiten an Mich, und kämpfe!
Mit Mir hingegebenem Geist und Verstand wirst du ohne Zweifel zu Mir kommen. (7)

VIII. 6
Ein überragend wichtiger Vers, der zusammen mit dem nächsten gelesen werden muß. Dass der letzte Gedanke im Leben eines Menschen die Art seiner Wiedergeburt bestimmt, diesen Hinweis findet man in vielen Schriften. Es wird aber nicht gelingen, im Moment des Todes an Gott oder an höhere Dinge zu denken, wenn man nicht vorher, während des ganzen Lebens darin vertieft war. Gedanken prägen und werden Wirklichkeit; und die zu Lebzeiten stärksten Wünsche und Gedanken, welche im Gedächtnisspeicher aufbewahrt sind, werden im Augenblick des Abschieds mit aller Macht im Geist auftauchen und die nächste Geburt bestimmen (mit aller Macht = sie überwältigen ihn; der gewöhnliche Mensch kann den Fluss der letzten Gedanken nicht kontrollieren). Folgerichtig sagt Shrî Krishna im nächsten Vers: »Denke darum zu allen Zeiten an Mich!«

VIII. 7
»Denke immer an Mich, und kämpfe!« – das ist die Shrîmad-Bhagavad-Gîtâ in einem einzigen Satz.

sarveshu kâleshu mâm anusmara yudhya cha

zurück an den Anfang

 

Der Friedensmantra »pûrnam adah …« [Îsha-Upanishad, Anrufung]

Dieser Shântimantra (shânti = Frieden) ist gleich in zwei der zehn bedeutendsten indischen Upanishaden zu finden; als öffnende Anrufung in der Îsha und im fünften Kapitel der altehrwürdigen Brihadâranyaka.

Der Mantra pûrnam adah ist einer der wichtigsten überhaupt. Bereits das bloße Aussprechen reinigt die psychische und ätherische Atmossphäre, erzeugt eine Schwingung des Friedens, richtet den Geist auf das Höhere. Was hier ausgesagt wird zeugt davon, dass der indische Geist zu einer Zeit, als wir noch mit Fellen bekleidet durch die Wälder streiften, die höchsten Höhen erklommen hatte. Die Worte des pûrnam adah sind die Essenz der Geistigkeit, sie handeln vom Brahman und können intellektuell nicht begriffen werden, denn sie sind Worte der großen Seher. Nur wer den Zustand des Nirvikalpa-Samâdhi erreicht hat weiß wirklich, was hier gemeint ist.

pûrnam adah pûrnam idam pûrnât pûrnam udachyate |
pûrnasya pûrnam âdâya pûrnam evâvashishyate ||

Jenes (ist) das Volle; dieses (ist) das Volle. Aus dem Vollen kommt das Volle hervor.
Von dem Vollen das Volle genommen, bleibt wahrlich (nichts als) das Volle. ||

Eine freie Wiedergabe. »Jenes nichtoffenbare, unveränderliche, ewige Sein ist Brahman (Gott im formlosen Aspekt); dieses vergängliche, sichtbare Universum ist Brahman (alle Welten als Gott mit Form), denn es ist aus dem Brahman hervorgegangen. Obgleich durch das Offenbarwerden scheinbar Brahman von dem Brahman genommen wird (= die Schöpfung ein Teil Gottes), bleibt wahrlich das Brahman unveränderlich, immer es selbst.«

Zum Inhalt. Eine Hilfe zum Verständnis des pûrnam adah gibt die Bhagavad-Gîtâ: »Wenn er sieht, dass das Gesondert-Dasein der Wesen in dem Einen sich befindet und nur von diesem (Einen) her sich ausbreitet, dann geht er in das Brahman ein.« (XIII.30)

In Seinem Werk »The Gist of Religions« gibt Shrî Swâmî Nârâyanânanda eine ausführliche Erklärung des pûrnam adah. Sein einleitender Satz lautet: »Ein sorgfältiges Studium und ein wenig tiefes Nachdenken über diesen einen Mantra enthüllt den ganzen Kern der Vedânta-Philosophie und stellt die Position oder Beziehung von Brahman (Gott) zum Universum fest.«

Dass das Ganze und seine Teile, das Eine und das Viele eins sind, dass es also das Viele im Grunde gar nicht gibt, das vermag nur der Erleuchtete glaubhaft zu sagen. Im Falle von uns Normalsterblichen wäre eine derartige Aussage »Bücherweisheit«, wie es in den Upanishaden herablassend heißt, leeres Geschwätz. Wer in den Nirvikalpa-Samâdhi eingeht, für den existiert die Welt nicht mehr. Wer viele einzelne Dinge sieht, erkennt das Brahman nicht. Jener, der aus dem Samâdhi zurückkehrt, er allein kann in der Vielheit der Wesen und Dinge das Eine sehen. Der Mantra pûrnam adah ist eine Hilfe auf dem Weg, eine ständige Erinnerung, diesen Zustand erreichen zu können.

Von Shri Ramakrishna hören wir: »Es ist leicht zu argumentieren und zu beweisen, dass die Welt um uns herum falsch ist, dass alles eine Illusion ist und das Höchste Brahman allein die Wahrheit ist. Aber ein logischer Beweis, dass das Brahman die einzige Realität ist, führt nicht zur Erfahrung oder Verwirklichung des Brahman. Zwischen intellektuellem Wissen und spiritueller Erfahrung besteht ein himmelweiter Unterschied. […] Durch Dialektik kommen wir zu dem Schluss, dass das Höchste Brahman allein wahr ist, dass die einzelnen Seelen und die vielgestaltigen Dinge des Universums um uns herum nur eine Erscheinung sind. Doch diese Schlussfolgerung dringt nicht in unser Herz und unseren Geist ein und verwandelt sie. Die Schlussfolgerung, zu der wir intellektuell gelangt sind, steht für sich und berührt und prägt unser Leben nicht. Sie ist noch nicht Teil unseres innersten Wesens. Die Schlussfolgerung, zu der wir durch viel Lernen und durch viele verbale Argumente gelangen, bleibt bei uns wie die Last auf dem Rücken eines Esels. Sie geht nicht in unser Wesen ein. Die erklärten Anhänger der Illusionstheorie scheinen, seltsam genug, sehr besorgt zu sein um ihre tägliche Nahrung und Kleidung. Kleinigkeiten beunruhigen uns und wir verlieren viel zu leicht die Beherrschung. Unser Wissen um die Wahrheit hat nicht immer Einfluss auf unser Verhalten. Advaita ist keine einfache Sache. Es erfordert Disziplin und Verehrung.«

Zur Rezitation. Dieser Mantra ist eine klassische Anrufung und wird vor der Meditation, vor und nach dem Studium der Schriften, beim Satsanga (Treffen mit spirituellen Menschen) rezitiert. Er erzeugt die rechte atmosphärische Schwingung. Es versteht sich von selbst dass diese Schwingung auch dann zustandekommt wenn das pûrnam adah nicht korrekt gesprochen wird, alles ist eine Frage der inneren Haltung. Genauso natürlich ist aber, dass es, wie alle Mantras, bei korrekter Aussprache besser wirkt.

Nicht wenige stören sich am typisch deutschen »purnAmmidAmm …«; man glaubt damit die »lässige« indische Aussprache nachahmen zu können und es klingt doch nur wie tarammtatamm. Es ist auch ein Unterschied ob man »eva vashishyate« sagt (das Wort vashishyate gibt es nicht) oder korrekt »eva avashishyate« … Hier der Mantra mit Betonungshilfe in Großschrift:

pUrnam Adah pUrnam Idam pUrnAt pUrnam udAchyatE
pUrnasya pUrnam AdAya pUrnam EvAvashishyatE
Om shAntih shAntih shAntih

Man kann es auch so darstellen (zweite Zeile):  puurnasya puurnam aadaaya puurnam eevaavashishyatee … Die Briten in Indien jedenfalls schrieben tatsächlich: poornam …, was zu einer korrekten Aussprache führte.

Die meisten westlichen Rezitationen und Vertonungen des purnam adah sind schlimm, eine Verhunzung heiligster Worte. Aber auch in Indien hat man nicht immer die Garantie einer korrekten Aussprache, seltsam. Gut ist diese Rezitation → Link.

zurück an den Anfang

 

BHAJA-GOVINDAM [Shrî Âdi-Shankarâchârya]

Eine Hymne gegen die Verschwendung von Zeit und Energie. Das unsterbliche Werk wird auch Moha-Mudgara genannt – »Hammer (mudgara) der die Verblendung (moha) zerschmettert«.

Zur Entstehung des Bhaja-Govindam. Shri Shankara hielt sich einst auf einer Wallfahrt in Kâshî (Vârânasî, Benares) auf. Dort ging er eines Morgens in Begleitung seiner Schüler zum Ganges, um ein Bad zu nehmen. Auf dem Weg hörte er eine Stimme, die Rezitation von Grammatikregeln der Sanskritsprache. Er ging der Stimme nach und traf auf einen alten Gelehrten, der eifrig dabei war die Aphorismen des Pânini aufzusagen, des größten Grammatikers Indiens. Dies bewegte Shrî Shankara, und er wurde von Mitleid erfüllt angesichts der Ignoranz eines Gelehrten, dem selbst im hohen Alter, bei der wenigen noch vorhandenen Zeit und Energie, eine intellektuelle Leistung wichtiger war als die Grundfrage nach dem Sinn des Lebens und nach der Befreiung aus der Gefangenschaft im Samsâra. Wir verschwenden die kostbare menschliche Geburt für Weltliches, für den Genuss der Sinne, das ist der Lauf der Dinge. Je näher aber der Zeitpunkt des Abschieds kommt, desto mehr sollte der Gedanke an das Heil der Seele überwiegen; etwas anderes wird aus spiritueller Sicht als Sinnlosigkeit und Torheit bezeichnet. So richtete sich Shrî Shankara an den Alten und begann mit den berühmten Worten: »Gib dich Gott hin, du törichter Geist! Ist die Zeit des Todes gekommen, können dich Grammatikregeln gewiß nicht retten …«

Zur Übersetzung von Vers 1. GOVINDA ist einer der vielen Namen von Shrî Krishna und bedeutet bei Shankaras universaler Aussage Gott, das alldurchdringende »uranfängliche Wesen, aus dem das ewige Werden hervorströmt« (Bhagavad-Gîtâ). BHAJ = lieben, verehren, sich hingeben. Im Deutschen liest man für »bhaja Govindam« einstimmig »verehre Govinda«, was eventuell nicht umfassend genug ist. Von Shrî Krishna wird in der Bhagavad-Gîtâ gesagt: »Jene die Mich verehren, indem sie alle Handlungen Mir weihen, mich als Höchstes ansehen, mit auf nichts anderes gerichteter Hingabe über Mich meditieren – diesen, o Arjuna, werde ich zum Retter aus dem Ozean des tödlichen Samsâra!« Richte deinen Geist auf Gott / gib dich Gott hin – das ist die sinnvollste Wiedergabe. MÛDHA = töricht, betört, verwirrt, verblendet, dumpf, kein klares Bewusstsein habend. »Du Narr, du Tor« – Shankaras Wortwahl ist nicht eine Beleidigung eines alten Lehrers, vielmehr die in ihrer Energie liebevolle Aufforderung, die Dinge endlich in der gebotenen Klarheit zu sehen.

Die universale Bedeutung des Bhaja-Govindam. Wer Shankaras Worte einzig an den Gelehrten gerichtet glaubt, wird das wundervolle Gedicht missverstehen. Spätestens beim zweiten und dritten Vers kämen dann Zweifel auf, da dort vom Hängen am Reichtum und von der Wollust die Rede ist – Dinge, denen der Alte vermutlich entwachsen war. Belehrungen der Meister, selbst wenn sie dem Einzelnen gelten, sind universale Wahrheiten. Man kann seine Zeit mit diesem und jenem, mit so vielem verschwenden. So steht in dieser Hymne »Grammatikregeln« für »nutzloses Wissen«; nutzlos, weil es das Rätsel des Lebens nicht lösen kann. Und Shri Shankara nutzt den Moment, um noch anderes zu nennen, was ein Finden des Selbst verhindert.

Wenn im dritten Vers drastisch von der Anziehungskraft des weiblichen Körpers gesprochen wird sollte man bedenken, dass der Text über tausend Jahre alt ist. Es sind nicht nur die Männer in Gefahr, sich in den Freuden der Sinne zu verlieren; Brahmacharya, ein Leben in Reinheit und Enthaltsamkeit, gilt für beide Geschlechter. Es gilt, den Geist des Geschriebenen zu verstehen. Wenn Shrî Râmakrishna vor den beiden Gefahren »Frauen und Gold« warnte, war das eine damals bekannte und beliebte Redewendung. Wirklich gemeint sind jedoch nicht die Frauen und das Gold, sondern die Wollust und das Hängen am Materiellen. Die Botschaft der Bhagavad-Gîtâ lautet: »Dreifach ist das Tor zur Hölle, das zur Selbstzerstörung führt: Wollust, Zorn und Gier. Darum gebe man diese drei auf! Der Mensch, der von diesen, den drei Toren zur Finsternis, sich befreit hat, o Arjuna, wirkt für sein Heil und geht daher den höchsten Weg.«

♦ ♦ ♦

Vers 1 (bhajagovindam bhajagovindam … Richte den Geist auf Gott, richte den Geist auf Gott …) wird als Refrain nach jedem der weiteren Verse wiederholt.

♦ ♦ ♦

bhajagovindam bhajagovindam govindam bhajamûdhamate |
samprâpte sannihite kâle nahi nahi rakshati dukriñkarane || 1 

Richte den Geist auf Gott, richte den Geist auf Gott, auf Gott richte den Geist, du Tor!
Ist der Zeitpunkt des Todes gekommen, können dich Grammatikregeln gewiß nicht retten. [1)]

bhaja = gib dich hin, richte deinen Geist auf … govinda = Gott; mûdha = verwirrt, dumpf, kein klares Bewusstsein habend, dumm, töricht, verblendet; mûdhamate = du törichter Geist; samprâpta = (wenn du) erreicht (hast); sannihita = in der Nähe befindlich, bevorstehend, die Gegenwart, das Herankommen; kâla = der Zeitpunkt (des Todes); nahi = na = nicht; hi = gewiß, wahrlich; rakshati = behütet, schützt, rettet (dich); dukriñkarana = eine Grammatikformel aus Pâninis Buch [1]

mûdha jahîhi dhanâgamatrishnâm kuru sadbuddhim manasi vitrishnâm |
yallabhase nijakarmopâttam vittam tena vinodaya chittam || 2 

O Narr! Gib hier auf Erden den Durst nach Erwerb von Besitz auf; frei von Gier, fülle den Geist mit heiligen Gedanken.
Sei zufrieden mit dem, was dir als Frucht der eigenen Handlungen zukommt. [2]

mûdha = Narr; jahîhi = jahi = gib auf; iha = hier auf Erden; dhanâgamatrishnâm = trishnâ = den Durst, die Gier, das Verlangen; âgama = Erwerb; dhana = Besitz, Reichtum; kuru = tue, mache; sadbuddhim = sat = gut, rein, heilig; buddhi = Bewusstsein; manasi = im Geist; vitrishnâ = frei von Gier; yallabhase = yat = was immer; labhase = du erhältst; nijakarmopâttam = nija = eigen; karma = Werk, Handlung; upâtta = erhalten; vitta = Besitz, Habe; tena = so, auf diese Weise, dadurch; vinodaya = unterhalte, vergnüge dich, sei zufrieden damit; chitta = Geist [2]

nârîstanabhara nâbhîdesham drishtvâ mâgâmohâvesham |
etanmâmsâvasâdi vikâram manasi vichintaya vâram vâram || 3 

Lass dich nicht ergreifen von der Verblendung (der Lust), wenn du die vollen Brüste und den Nabel der Frauen siehst.
Der Körper ist eine Zusammensetzung von Fleisch, Fett und anderem. Denke darüber nach, wieder und wieder. [3]

nârîstanabhara = nârî = Frau; stana = Brust; bhara = ernährend, erhaltend, voll (mit Milch); nâbhîdesham = nâbhi = Nabel; desha = Ort, Gegend; drishtvâ = gesehen habend; mâgâmohâvesham = mâ = nicht; gâ = gehen, sich begeben zu; moha = Verblendung, Betäubung; âvesha = Benommensein, Ergriffensein; etanmâmsâvasâdi = etad = dies; mâmsa = Fleisch; vasâ = Fett; adi = und so weiter, und anderes, und dergleichen; vikâra = Produkt, Erzeugnis, Umwandlung, Veränderung; manasi = im Geist; vichintaya = denke nach; vâram vâram = wieder und wieder, häufig, oft [3]

nalinîdalagata jalamatitaralam tadvajjîvitamatishayachapalam |
viddhi vyâdhyabhimânagrastam lokam shokahatam cha samastam || 4 

Wie ein auf dem Lotusblatt schwankender Wassertropfen, ebenso höchst unbeständig ist das Leben.
Erkenne dass die ganze Welt von Krankheit, Selbstsucht und Kummer verzehrt wird. (4)

nalinîdalagata = nalinî = Lotusblume; dala = Blatt; gata = gegangen, befindlich; jalamatitaralam = jala = Wasser; ati = überaus, sehr; tarala = schwankend, zitternd, unbeständig; tadvajjîvitamatishayachapalam = tadvat = ebenso, gleichfalls; jîvita = Leben; atishaya = überaus, sehr, in hohem Grad; chapala = schwankend, unstet, beweglich; viddhi = wisse; vyâdhyabhimânagrastam = vyâdhi = Krankheit; abhimâna = Eigendünkel, Hochmut, Wahn; grasta = verzehrt, geschluckt, gefressen, ergriffen, gepackt; loka = die Welt; shokahatam = shoka = Kummer, Schmerz; hata = geschlagen, getroffen, geplagt von, leiden an; cha = und; samasta = alle, ganz, insgesamt [4]

yâvadvittopârjana saktah tâvannija parivâro raktah |
pashchâjjîvati jarjara dehe vârttâm ko'pi na pricchati gehe || 5 

Solange jemand fähig ist Geld zu verdienen, hängen die Angehörigen an ihm.
Später, wenn er in einem gebrechlichen Körper lebt, fragt niemand im Haus nach ihm. [5]

yâvadvittopârjana = yâvat = so lange als, wie weit; vitta = Besitz, Geld, Vermögen; upârjana = Erwerb; sakta = beschäftigt mit, gewidmet, hängend an, erfüllt von; tâvannija = tâvat = so lange, so weit; nija = eigen; parivâra = Familie, Umgebung, Gefolge; raktah = eingenommen von, hängend an, entzückt; pashchâjjîvati = pashchât = später, hinterher; jîvati = lebt; jarjara = gebrechlich, zerschlagen; dehe = im Körper; vârttâ = Nachricht, Wort, Erkundigung, »was gibt es Neues?«; ko'pi = ka api = wer auch immer, irgendjemand; na = nicht; pricchati = fragt nach, erkundigt sich; gehe = im Haus [5]

yâvatpavano nivasati dehe tâvatpricchati kushalam gehe |
gatavati vâyau dehâpâye bhâryâ bibhyati tasminkâye || 6 

Solange der Atem im Körper wohnt, erkundigt sich jeder im Haus nach dem Wohlbefinden.
Wenn aber die Lebenskraft den Körper verlassen hat, fürchtet sich sogar die Gattin vor diesem Körper. [6]

yâvat = so lange als; pavana = Wind, Atem; nivasati = wohnt, lebt; dehe = im Körper; tâvat = so lange; pricchati = fragt nach, erkundigt sich; kushala = Wohlbefinden; gehe = im Haus; gatavati = gegangen; vâyau dehâpâye = Lok. von vâyu = Lebenskraft; deha = Körper; apâya = Weggang; bhâryâ = Gattin; bibhyati = fürchtet sich, ist in Furcht, erschreckt sich; tasminkâye = vor diesem (tad) Körper (kâya) [6]

bâlastâvatkrîdâsaktah tarunastâvattarunîsaktah |
vriddhastâvaccintâsaktah pare brahmani ko'pi na saktah || 7   

Als Kind hängt man am Spiel; als Jüngling an der jungen Frau.
Im Alter ist man erfüllt von Sorge. (Ach!) Niemand ist erfüllt vom höchsten Brahman.  (7)

bâla = Kind; tâvat = so lange, so weit; krîdâ = Spiel; sakta = hängend an, beschäftigt mit, erfüllt von; taruna = Jüngling; tâvat = so lange, so weit; tarunî = Mädchen; sakta = hängend an, beschäftigt mit, erfüllt von; vriddha = alt, groß, erwachsen; tâvaccintâsaktah = tavât = so lange, so weit; cintâ = Sorge; sakta = hängend an, beschäftigt mit, erfüllt von; pare (auch zu lesen: parame) brahmani ko'pi na saktah = ka api = irgendjemand; na = nicht; sakta = hängend an, beschäftigt mit, erfüllt von; para oder parama brahman = höchstes Brahman, Gott [7]

kâte kântâ kaste putrah samsâro'yamatîva vichitrah |
kasya tvam kah kuta âyâtah tattvam chintaya tadiha bhrâtah || 8

Wer ist deine Frau? Wer ist dein Sohn? Höchst seltsam ist dieser Samsâra.
Von wem bist du? Von wo bist du gekommen? O Bruder, denke hier über die Wahrheit nach. (8)

kâte = kâ = wer (als negative Frage); te = deine; kântâ = Frau; kaste (ka + te) putrah = wer dein Sohn; samsâro'yamatîva = samsâra = der Kreislauf der Geburten und Tode; ayam = dieser; atîva = höchst; vichitra = seltsam; kasya = von wem; tvam = du; kah kuta = von wo; âyâtah = gekommen, erreicht, angekommen; tattva = Wahrheit; chintaya = denke nach; tad iha = dies hier (bedeutet: diese Dinge betreffend, denke nach, was die Wahrheit ist); bhrâtar = Bruder [8]

satsangatve nissangatvam nissangatve nirmohatvam |
nirmohatve nishchalatattvam nishchalatattve jîvanmuktih || 9  

Die Gemeinschaft mit Wahrheitssuchern führt zum Nicht-Anhaften; durch das Nicht-Anhaften entsteht das Freisein von Verblendung.
Das Freisein von Verblendung führt zur eigenen wahren Natur. Die Erkenntnis der eigenen wahren Natur ist die Erlösung. [9]

satsangatve = durch den satsanga = die Gemeinschaft (sanga) mit den Guten, Reinen (sat); nissangatva= das Nicht-Anhaften; nissangatve = vom Nicht-Anhaften; nirmohatva = das Freisein von Verblendung; nirmohatve = durch das Freisein von Verblendung; nishchalatattvam = nishchala = unbeweglich, unwandelbar, unveränderlich; tattva = das wahre Wesen, Wahrheit; nishchalatattve = durch die Verwirklichung des wahren Wesens, der eigenen wahren Natur; jîvanmukti = jîvat = lebend; mukti = Erlösung, Befreiung (jîvanmukti = die Befreiung zu Lebzeiten) ([9]

vayasigate kah kâmavikârah shushke nîre kah kâsârah |
kshînevitte kah parivârah jñâte tattve kah samsârah || 10  

Welche ist die Lust, wenn die Jugend gegangen ist? Wo ist der Teich, wenn das Wasser verdunstet ist?
Wo ist das Gefolge, wenn der Reichtum veschwunden ist? Wo ist der Samsâra, wenn man die Wahrheit erkannt hat? [10]

vayasigate = vayas = Jugend, das kraftvolle Alter, Energie, Gesundheit; gata = gegangen; ka = wer, was, welches; kâmavikâra = Lust, Leidenschaft; shushka = trocken, dürr; nîra = Wasser; ka = wer, was, welches; kâsâra = Teich, See; kshînevitte = kshîna = verschwunden, untergegangen; vitta = Besitz, Habe, Reichtum; ka = wer, was, welches; parivâra = Familie, Angehörige, Freunde, wörtl. »das Gefolge, die Begleitung«; jñâte = erkannt habend; tattve = die Wahrheit; ka = wer, was, welches; samsâra = der Kreislauf der Geburten und Tode, das Getriebe der Welt [10]

mâ kuru dhana jana yauvana garvam harati nimeshâtkâlah sarvam |
mâyâmayamidamakhilam buddhvâ (auch: hitvâ) brahmapadam tvam pravisha viditvâ || 11 

Sei nicht stolz auf Besitz, Freunde, Jugend. Dies alles nimmt die Zeit in einem Augenblick weg.
Ist dir zum Bewusstsein gekommen daß all dies aus Täuschung besteht, erkenne das Brahman und gehe darin ein.  [11]

mâ= nicht; kuru = tue, mache; dhana = Besitz, Reichtum; jana = »die Leute« (hier: die Nahestehenden); yauvana = Jugend; garva = Stolz, Hochmut; harati = raubt, nimmt weg; nimeshâtkâlah = nimesha = Augenblick; kâla = Zeit; sarvam = alles; mâyâmayamidamakhilam = mâyâmaya = aus Täuschung (mâyâ) bestehend (maya); idam = dies; akhila = alles, restlos, lückenlos; buddhvâ = zum Bewusstsein gekommen seiend. Statt buddhvâ findet man auch die Lesart hitvâ =   aufgegeben, verlassen habend. Der zweite Halbvers lautet dann: »All   dies aus Täuschung Bestehende aufgegeben habend, erkenne das Brahman und   gehe darin ein.« brahmapada = die Stätte Brahmans, der Brahman-Zustand; tvam = du; pravisha = gehe ein; viditvâ = erkannt habend [11]

dinayâminyau sâyam prâtah shishiravasantau punarâyâtah |
kâlah krîdati gacchatyâyuh tadapi na muñchatyâshâvâyuh || 12 

Tag und Nacht, Abenddämmerung und Morgengrauen, Winter und Frühling, sie kommen und gehen.
Die Zeit spielt, das Leben schwindet dahin. Aber der Sturm der Wünsche läßt (seinen Griff) nicht los. (12)

dinayâminyau = dina = Tag; yâminî = Nacht; sâya = Abend; prâta = früh morgens; shishiravasantau = shishira = Winter; vasanta = Frühling; punarâyâtah = punar-âyâti = das Wieder-Kommen; kâla = Zeit; krîdati = spielt; gacchatyâyuh = gacchati = geht; âyu = Leben, Lebenszeit; tad api = hat hier die Bedeutung »aber, dennoch, gleichwohl, nichtsdestoweniger«; na = nicht; muñchatyâshâvâyuh = muñchati = gibt auf, läßt los, läßt frei; âshâ = Wunsch, Hoffnung; vâyu = Wind (bedeutet hier »Sturm«) [12]

♦ ♦ ♦

Diese Worte (1–12) stammen von Shrî Shankara selbst. Vers 13 (andere Zählart: 12a) ist eine Einfügung und wird nicht von allen rezitiert:

dvâdashamañjarikâbhirasheshah kathito vaiyâkaranasyaishah |
upadesho bhûdvidyânipunaih shrîmacchankarabhagavaccharanaih || 13 (oder 12a)

Diese Unterweisung wurde als Strauß mit zwölf (Vers-)Blüten einem Grammatiker gegeben 
vom allwissenden, göttlichen Shrîmat Shankara. (13 oder 12a)

Die nächsten Verse (das Werk umfaßt 31, mit Einfügungen – ähnlich 12a – 33 oder 34 Strophen) wurden später von den inspirierten Schülern Shankaras verfasst, die bei der Belehrung in Kâshî anwesend waren. Man singt das Bhaja-Govindam in unterschiedlicher Verszahl; hier werden Shankaras originale Worte an den alten Gelehrten bevorzugt (1–12). Ab Vers 14 (andere Zählart: 13) ist ein großer Unterschied, in meinen Augen sogar ein deutlicher Bruch zu erkennen. Die Verse der Schüler sind klassisch und schön, dennoch fehlt die unvergleichliche, konzentrierte Direktheit des überragenden Meisters. Die traditionelle Anschauung ist aber, dass die letzten vier oder fünf Verse wiederum von Shrî Shankara sind, der damit dem auf diese Weise entstandenen Werk seinen Segen gab. Daran ist kaum zu zweifeln, schließt doch das Bhaja-Govindam im Vers 34 (andere Zählart: 33) mit den wundervollen Worten:

bhajagovindam bhajagovindam govindam bhajamûdhamate |
nâmasmaranâdanyamupâyam nahi pashyâmo bhavatarane || 34 (oder 33)  

Richte den Geist auf Gott, richte den Geist auf Gott, auf Gott richte den Geist, du Tor!
Wahrlich, außer der Erinnerung an den Namen Gottes gibt es keinen anderen Weg, den leidvollen Ozean des Lebens zu überqueren. [34 oder 33]

bhaja = richte den Geist auf … govinda = Gott; mûdhamate = du törichter Geist; nâma = der Name (Gottes); smaranâ = das Gedenken, die Erinnerung; hat hier die klassische Bedeutung »Mantra-Japa«, die Wiederholung des Namens Gottes; anya = anderes; upâyam = Mittel, Art und Weise, Ausweg; na = nicht; hi = gewiß, wahrlich; pashyâmo = sehen wir; bhavatarane = bhava = das Entstehen, Geburt, Existenz, Leben, Welt; tarana = das Hinübersetzen, Überwinden, Retten; Floß, Boot [34 oder 33]

zurück an den Anfang

 

Die Essenz des Yoga [Maitrî-Upanishad VI.34]

Von den Lehren des Weisen Maitrî wird der 34. Abschnitt des 6. Kapitels am häufigsten zitiert, weil er die Essenz des Yoga ist. Mehr muss ein Sucher der Wahrheit nicht wissen. Es sei besonders auf den zweiten Halbvers 3 hingewiesen, er ist die Essenz der Essenz: yach chittas tanmayo bhavati guhyam etat sanâtanam • »So wie man denkt, so wird man; dies ist das ewige Geheimnis!«


Ein Kommentar zu VI.34 erübrigt sich, alles ist klar. Nur zu Vers 8: »bis er zum Untergang gegangen ist (kshayam gatam)« bedeutet: bis er sich auflöst; und »eine Ausdehnung der Knoten (grantha-vistarâh)« heißt: eine Verstärkung der Fessel, die an den Samsâra, an den leidvollen Kreislauf der Geburten und Tode bindet. Man findet dafür auch die freie Wiedergabe »das ist die Freiheit! Alles andere sind unnütze Worte, oder: alles andere ist Bücherweisheit.« Schließlich Vers 10: »Wie man Wasser nicht von Wasser unterscheiden kann …« bedeutet: Mit dem Auflösen des Geistes ist die Vielheit verschwunden, es gibt nur noch das Eine ohne ein Zweites.

Der Abschnitt 34 beginnt mit den Worten »… hier erreicht der Yogin den Zustand des geistigen Friedens (manah-shânti-padam). Er richtet den Geist auf das Selbst. Dazu gibt es diese Verse«:

yathâ nirindhano vahnih svayonâv upashâmyate |
tathâ vritti-kshayâch chittam svayonâv upashâmyate || 1

Wie Feuer ohne Brennstoff im Herd erlöscht,
so erlischt der Geist in seinem Ursprung, wenn die Unruhe des Denkens aufhört. (1)

svayonâv upashântasya manasah satyakâmatah |
indriyârtha-vimûdhasyânritâh karma-vashânugâh || 2

Das Denken kommt zur Ruhe in seinem Ursprung für den, der sich nach Wahrheit sehnt.
Wer aber von den Sinnesobjekten verwirrt ist, lebt in der Unwahrheit als Folge seines Handelns. (2)

chittam eva hi samsâram tat prayatnena shodayet |
yach chittas tanmayo bhavati guhyam etat sanâtanam || 3

Der (eigene) Geist, wahrlich, ist der Samsâra; ihn zu reinigen soll man sich bemühen.
So wie man denkt, so wird man; dies ist das ewige Geheimnis! (3)

chittasya hi prasâdena hanti karma shubhâshubham |
prasannâtmâtmani sthitvâ sukham avyayam ashnute || 4

Durch den Frieden des Geistes vernichtet er die (Folgen der) guten und schlechten Werke.
Mit friedvollem Geist im Selbst ruhend, erlangt er unvergängliche Freude. (4)

samâsaktam yathâ chittam jantor vishaya-gochare |
yady evam brahmani syât tat ko na muchyeta bandhanât || 5

Wenn die Menschen ebensosehr an Gott hingen wie sie an den Sinnesobjekten hängen,
wer würde dann nicht aus der Gefangenschaft befreit? (5)

mano hi dvividham proktam shuddham châshuddam eva cha |
ashuddham kâmasamparkât shuddham kâma-vivarjitam || 6

Der Geist eines Menschen ist zweifach: rein und unrein.
Unrein durch die Berührung mit den Wünschen; rein, wenn von Wünschen frei. (6)

laya-vikshepa-rahitam manah kritvâ sunishchalam |
yadâ yâty amanîbhâvam tadâ tat paramam padam || 7

Den Geist freigemacht habend von Trägheit und Zerstreutheit, ganz unbeweglich,
gelangt er zum Nichtsein des Geistes, dann zu jener höchsten Stätte. (7)

tâvan mano niroddhavyam hridi yâvat kshayam gatam |
etaj jñânam ca moksham ca sheshânye granthavistarâh || 8

So lange muß der Geist im Inneren stillgelegt werden, bis er zum Untergang gegangen ist;
das ist die Erkenntnis, die Freiheit! Alles andere ist nur eine Ausdehnung der Knoten. (8)

samâdhi-nirdhauta-malasya chetaso niveshitasyâtmani yat sukham bhavet |
na shakyate varnayitum girâ tadâ svayam tad antahkaranena grihyate || 9

Wessen Geist durch Versenkung von allem Übel rein geworden ist und im Selbst ruht, erfährt ein Glück,
das mit Worten nicht zu beschreiben, nur im Innersten zu begreifen ist. (9)

apâm âpo'gnir agnau vâ vyomni vyoma na lakshayet |
evam antargatam yasya manah sa parimuchyate || 10

Wie man Wasser nicht von Wasser, Feuer nicht von Feuer, den Äther nicht vom Äther unterscheiden kann,
ebenso ist jener völlig befreit, dessen Geist im Inneren sich aufgelöst hat. (10)

mana eva manushyânâm kâranam bandha-mokshayoh |
bandhâya vishayâsangim moksho nirvishayam smritam || 11

Der Geist, wahrlich, ist für die Menschen die Ursache von Bindung und Befreiung.
Zur Bindung führt er durch das Haften an der Sinnenwelt, zur Befreiung durch Loslösung davon. (11)

zurück an den Anfang

 

Der Guru und das Geheimnis der Geheimnisse

Zehn Wahrheitssucher mögen vielleicht zehn verschiedene Antworten geben, wenn sie nach der Essenz des spirituellen Weges gefragt werden. In den Augen vieler Devotees sind es die folgenden Worte aus der Guru-Gîtâ (Vers 76), denn sie handeln vom größten aller Geheimnisse.

dhyânamûlam gurormûrtih pûjâmûlam guroh padam |
mantramûlam gurorvâkyam mokshamûlam guroh kripâ || 76

Die Wurzel der Meditation ist die Gestalt des Gurus; die Wurzel der Verehrung sind die Füße des Gurus;
die Wurzel des Mantra ist das Wort des Gurus; die Wurzel der Erlösung ist die Gnade des Gurus. (76)

In zahlreichen Ashrams wird täglich die gesamte Guru-Gita rezitiert. Es gibt Differenzen bei der Zählung der Verse. Da die Guru-Gîtâ ein Teil des riesigen Skanda-Purâna ist, werden von manchen nur »die ganz wichtigen« Shlokas ausgewählt; andere wiederum möchten den vollen Text. Entsprechend sind die Verszählungen etwas unterschiedlich. Als Essenz gilt eigentlich der berühmte Shloka

gururbrahmâ gururvishnurgururdevo maheshvarah |
gurureva param brahma tasmai shrîgurave namah || 32

Der Guru ist Brahmâ, der Guru ist Vishnu, der Guru ist Shiva;
der Guru ist wahrlich das höchste Brahman; Verehrung Ihm, dem strahlenden Guru! (32)

Viele halten aber den anfangs zitierten Vers 76 für noch bedeutender, denn er enthält die Geheimnisse der Praxis des spirituellen Weges: Was ist die Wurzel (mûla – auch: Essenz, Grundlage) der Meditation? Was ist die Essenz aller Verehrungsrituale, die wahre Pûjâ? Der Guru-Mantra als Schlüssel der spirituellen Praxis. Schließlich das größte aller Geheimnisse: Wer ist der Guru, was bewirkt er, wie führt er seine Schüler zur Freiheit?

Zur letzten Frage sei Bhagavân Shrî Ramana Maharshi zitiert:

Besucherin: »Ist zur Verwirklichung ein Meister notwendig?« Shri Ramana: »Die Gnade des Meisters trägt mehr zur Selbstverwirklichung bei als Lehren, Vorträge, Meditation usw. Sie sind nur zweitrangige Hilfen, während die Gnade des Meisters die erste und wesentliche Ursache ist.«

Besucherin: »Was sind die Hilfen zur Verwirklichung?« Shri Ramana: »Die Lehren der Heiligen Schriften und der verwirklichten Seelen.« Besucherin: »Können solche Lehren Gespräche, Vorträge und Meditationen sein?« Shri Ramana: »Ja, all diese sind nur zweitrangige Hilfen, während das Wesentliche die Gnade des Meisters ist.«

Die Worte des Maharshi, und die Endworte von Vers 76 (mokshamûlam guroh kripâ) setzen den Glauben an den Guru voraus, und das Wissen, wie wichtig er für den Sucher der Wahrheit ist. Bei derartigen Aussagen hält sich der Verfasser der Guru-Gîtâ nicht zurück. Man denke nur an Vers 44:

shive kruddhe gurustrâtâ gurau kruddhe shivo na hi |
tasmât sarvaprayatnena shrîgurum sharanam vrajet || 44

Wenn Shiva erzürnt ist, kann der Guru dich retten; wenn aber der Guru erzürnt ist, kann nicht einmal Shiva dich retten.
Nimm deshalb Zuflucht zum Guru mit all deiner Kraft. (44)

Die Guru-Gita ist etwas für »Devotees«. Man verinnerliche in diesem Zusammenhang auch den Refrain aus dem Gurvasthakam, die unsterblichen Worte von Shri Shankaracharya:

manashchenna lagnam guroranghripadme |
tatah kim tatah kim tatah kim tatah kim ||

Wenn aber der Geist nicht an den Lotusfüßen des Gurus hängt,
wozu (dies alles)? Wozu? Wozu? Wozu? ||

♦ ♦ ♦

gururbrahmâ gururvishnurgururdevo maheshvarah |
gurureva param brahma tasmai shrîgurave namah ||

Der Guru ist Brahmâ, der Guru ist Vishnu, der Guru ist Shiva;
der Guru ist wahrlich das höchste Brahman; Verehrung Ihm, dem strahlenden Guru! ||

anekajanmasamprâpta karmabandhavidâhine  |
âtmajñânapradânena tasmai shrîgurave namah ||

Verehrung Ihm, dem strahlenden Guru, der die Fesseln des in vielen Geburten
angesammelten Karmas verbrennt, indem er Selbst-Erkenntnis schenkt! ||

dhyânamûlam gurormûrtih pûjâmûlam gurohpadam  |
mantramûlam gurorvâkyam mokshamûlam guroh kripâ ||

Die Wurzel der Meditation ist die Gestalt des Gurus; die Wurzel der Verehrung sind die Füße des Gurus;
die Wurzel des Mantra ist das Wort des Gurus; die Wurzel der Erlösung ist die Gnade des Gurus! ||

♦ ♦ ♦

»Geheimnis aller Geheimnisse« – dies bezieht sich auf den weltberühmten Vers aus der »Hymne an Dakshinâmûrti (= Shiva, hier in der Bedeutung: der Alldurchdringende)«, genauer aus der einleitenden Meditation (dhyânam) dazu: Shrî-Dakshinâmûrti-Stotram-Dhyânam, verfasst vom legendären Shrî Shankarâcharya. Der ganze Vers lautet:

îshvaro gururâtmeti mûrtibhedavibhâgine |
vyomavadvyâptadehâya dakshinâmûrtaye namah ||

Ich verneige mich vor Dakshinâmûrti, dem Alldurchdringenden,
der sich in (scheinbar) verschiedenen Formen als Gott, Guru und Selbst offenbart. ||

Gott, Guru und Selbst sind nicht verschieden, sondern ein und dasselbe. Bhagavân Shrî Ramana Maharshi betonte dies ausdrücklich. Eine seiner eindeutigen Aussagen hierzu:

Besucher: »Was ist die Gnade des Gurus? Wie wirkt sie?« Shri Ramana: »Guru ist das Selbst.« Besucher: »Wie führt das zur Verwirklichung?« Shri Ramana: »Îshvaro gururâtmeti … (Gott ist dasselbe wie Guru und Selbst ...). Ein Mensch beginnt mit Unzufriedenheit. Nicht zufrieden mit der Welt, sucht er die Befriedigung der Wünsche durch Gebete zu Gott; sein Geist wird gereinigt; er sehnt sich mehr danach, Gott zu kennen als seine weltlichen Wünsche zu befriedigen. Dann beginnt Gottes Gnade sich zu offenbaren. Gott nimmt die Gestalt eines Gurus an und erscheint dem Verehrer; Er lehrt ihn die Wahrheit; Er reinigt den Geist durch seine Lehre und den Kontakt; der Geist gewinnt an Kraft, er kann sich nach innen wenden; durch Meditation wird er noch weiter gereinigt und bleibt schließlich still ohne die geringste Wellenbewegung. Diese Stille ist das Selbst. Der Guru ist beides, äußerlich und innerlich. Von außen gibt Er dem Geist einen Anstoß sich nach innen wenden; im Inneren zieht Er den Geist zum Selbst und hilft dem Geist, zur Ruhe zu kommen. Das ist Gnade. Daher gibt es keinen Unterschied zwischen Gott, Guru und dem Selbst.«

♦ ♦ ♦

mânasa bhajare guru-charanam 
dustara-bhava-sâgara-taranam || 

Verehre im Geist die Füße des Gurus; 
(sie sind das Boot,) um den schwer zu überquerenden Ozean der (weltlichen) Existenz zu überqueren. ||

Als der 14jährige Sathya Sâî Bâbâ im Jahre 1940 sich als Guru offenbarte und Seine Mission begann (»Meine Devotees rufen mich …«), war dies die Anfangszeile des ersten Bhajans, den Er Seine Anhänger lehrte. Diese Zeile ist die Essenz des spirituellen Weges.

Die Anfangszeile, welche Shri Sathya Sai Baba als den größten Mantra pries, fasst seine Lehre zusammen: Der königliche Weg zum höchsten Ziel des menschlichen Lebens – die Freiheit (Moksha) vom leidvollen Kreislauf der Geburten und Tode – ist die völlige Hingabe an den Guru. 

Einige Versionen des wundervollen Bhajans mit vollem Text: siehe unter »Sattvische Musik« [→ Link].

♦ ♦ ♦

Mein Meister unterschrieb Briefe an die Schüler stets so: »… Dein eigenes Selbst, Swami Narayanananda«.

Bei der Einweihung (mantra-dîkshâ) erhielt ich das »Mantra-Blatt« (ein Merkblatt mit der schriftlichen Ausführung des vorher mündlich Mitgeteilten). Dort fiel mir schnell das Ende auf, wo als Unterschrift steht: »Dein eigenes Selbst.« Ich kannte das aus dem Studium der Schriften: »Îshvaro gururâtmeti … Gott, Guru und Selbst sind ein und dasselbe.« Aber diese Worte als reine Lektüre sind tot, das ergibt nur die Reaktion: »Aha.« Kniet man vor einem lebenden Meister und hört »Ich bin dein Selbst«, ist das etwas unvergleichlich anderes. Dass der Guru Gott ist, geht aus dem klassischen Satz hervor: »Der Kenner Brahmans wird selbst zum Brahman.« Das ist einigermaßen verständlich, vor allem da der Begriff ›Gott‹ in den großen Religionen nicht plausibel definiert wird. Dass der Guru das eigene Selbst ist halte ich dagegen für das Geheimnis aller Geheimnisse.

In einer alten Yogaschrift (der Titel ist mir leider entfallen) las ich vor vielen Jahren: Erst kurz vor dem Eingehen in den Samâdhi, wenn die Kundalinî-Shakti zum vollständigen Aufstieg gekommen ist, wird der Wahrheitssucher erkennen, wer der Guru wirklich gewesen ist.

zurück an den Anfang

 

Gurvashtakam [Shrî Âdi-Shankarâchârya]

Gurvashtakam (Guru+Ashtakam) = das Oktett (ashtaka) an den Guru. Das ehrfurchtsvolle Shrî ist meist vorangesetzt: Shrî-Guru-Ashtakam = Acht Verse über den strahlenden Guru.

Nach den Sandhi-Regeln des Sanskrit (die Verbindung von Wörtern) sind viele Begriffe nicht einfach zu lesen. So besteht das manashchenna in jedem Vers aus manah-ched-na. Deshalb ist eine Wort-für-Wort-Erklärung sinnvoll. Da andererseits versucht wird die Texte auf dieser Seite möglichst kurz zu halten, sei beim Gurvashtakam (wie bei der Maitrî-Upanishad) auf eine detaillierte Wiedergabe verzichtet; wichtig ist dass man begreift worum es geht.

Eine Ausnahme: der zweite Halbvers, da er in allen Versen vorkommt. Er ist die Essenz; darauf legt Shrî Shankara das Gewicht. Der Geist erhält förmlich einen Schlag wenn man das viermal geäußerte tatah kim (wozu dies alles) vernimmt. 

manashchenna lagnam guroranghripadme |
tatah kim tatah kim tatah kim tatah kim ||

Wenn aber der Geist nicht an den Lotusfüßen des Gurus hängt,
wozu dies alles (wörtlich: dann wozu?) ? Wozu? Wozu? Wozu? ||

manashchenna = manah = der Geist; ched = wenn; na = nicht; lagna = Vergangenheitsform von lag (sich heften an, sich hängen an, sich anschließen, hängenbleiben an, haften, sich anschmiegen; guroranghripadme = guroh = des Guru; anghri = Fuß; padma = Lotus; tatah kim = tatah = von daher, dann, deshalb; kim = was? warum? wozu? was nützt das?

♦ ♦ ♦

Eine weitere Ausnahme betrifft Vers 1, da es zwei Lesarten gibt: 1. sharîram surûpam tathâ vâ kalatram und 2. sharîram surûpam sadâ roga muktam. Daher auch hier etwas genauer: 

sharîra = Körper; su = sehr, wohl, sehr gut, schön; rûpa = das Äußere, Gestalt, Form, Bild, Aussehen; erste Lesart: tathâ vâ = so, ebenso, desgleichen; kalatra = Ehefrau; zweite Lesart: sadâ = immer, stets; roga = Krankheit, Gebrechen; mukta = frei von, befreit, erlöst 

Erste Lesart: »Man mag einen wohlgeformten Körper haben, und eine schöne, anziehende Ehefrau …«

Zweite Lesart: »Man mag einen stattlichen Körper haben, der immer frei von Krankheit ist …«

Obwohl die erste Lesart überwiegt, passt sie weder inhaltlich – sie ist geradezu albern – noch in die Logik eines Meisters. Die zweite Lesart ist stimmig: Es ist gutes Karma, einen starken, nicht behinderten Körper zu haben, der noch dazu ein Leben lang frei von Krankheit ist … Das sind zwei verschiedene essentielle Dinge, die einer gesonderten Erwähnung bedurften. Die in meinen Augen korrekte Lesart von Vers 1 steht unten.

Schließlich eine Anmerkung zum letzten Vers, zur Übersetzung von mano vartate me – »mein (me) Geist (manas) lebt in (vartate) …« vrit, vart hat die Bedeutungen: sich drehen, sich bewegen, existieren, bestehen, verweilen, wohnen, etwas im Sinn haben, sich mit einer Sache beschäftigen, einer Sache obliegen. Der Geist »lebt« in den Dingen, an die er denkt.

Mein Geist lebt nicht im Wald (aranye) = ich beschäftige mich nicht mehr mit dem Dasein eines Eremiten in den Wäldern, ich bin darüber hinausgegangen. Mein Geist lebt nicht im eigenen Haus (svasya gehe) = ich erfülle meine familiären Pflichten getreu meinem Dharma, hafte aber nicht mehr an ihnen. Mein Geist lebt nicht im Körper (dehe) = ich habe aufgehört mich mit ihm zu identifizieren. Mein Geist lebt nicht im Unschätzbaren (anarghye) = ich strebe nicht mehr nach den angeblich so wertvollen materiellen Dingen; für mich sind »Gold und Lehm das gleiche« (so die Worte von Shrî Râmakrishna). Und dennoch, spricht Shrî Shankara, ist diese hohe Stufe nicht genug. Fehler können noch gemacht werden, die Gefahr von Rückschlägen ist immer da. Die endgültige Erlösung erreicht man durch Guru-Kripâ, durch die sichere Führung und die unbegreifliche Liebe des Guru. Dies ist das verborgenste aller Geheimnisse.

♦ ♦ ♦

sharîram surûpam sadâ roga muktam yashashchâruchitram dhanam meru-tulyam |
manashchenna lagnam guroranghripadme tatah kim tatah kim tatah kim tatah kim || 1

Ein stattlicher Körper, frei von Krankheit ein Leben lang; der Ruhm glänzend und angenehm; der Reichtum so groß und beständig wie der (Weltberg) Meru; wenn aber der Geist nicht an den Lotusfüßen des Gurus hängt, wozu (dies alles)? Wozu? Wozu? Wozu? (1)

kalatram dhanam putra-pautrâdi sarvam griham bândhavâh sarvametaddhi jâtam |
manashchenna lagnam guroranghripadme tatah kim tatah kim tatah kim tatah kim || 2

Ehefrau, Reichtum, Sohn, Enkel und so fort, alles; Haus, Freunde – dies alles wahrlich (mag) vorhanden (sein); wenn aber der Geist nicht an den Lotusfüßen des Gurus hängt, wozu (dies alles)? Wozu? Wozu? Wozu? (2)

sadangâdivedo mukhe shâstravidyâ kavitvâdigadyam supadyam karoti |
manashchenna lagnam guroranghripadme tatah kim tatah kim tatah kim tatah kim || 3

Den Veda mit seinen sechs Teilen auf den Lippen (und auch) die Kenntnis der (anderen) Schriften (habend), die Fähigkeit zu Dichtkunst und Prosa; wenn aber der Geist nicht an den Lotusfüßen des Gurus hängt, wozu (dies alles)? Wozu? Wozu? Wozu? (3)

videsheshu mânyah svadesheshu dhanyah sadâcâravritteshu matto na chânyah |
manashchenna lagnam guroranghripadme tatah kim tatah kim tatah kim tatah kim || 4

Geachtet in der Fremde, glücklich in der Heimat; von niemandem übertroffen auf den Pfaden des rechten Lebenswandels; wenn aber der Geist nicht an den Lotusfüßen des Gurus hängt, wozu (dies alles)? Wozu? Wozu? Wozu?  (4)

kshamâmandale bhûpabhûpâlavrindaih sadâ sevitam yasya pâdâravindam |
manashchenna lagnam guroranghripadme tatah kim tatah kim tatah kim tatah kim || 5

Die Schar der Könige des Erdkreises mag (einem) immer (huldigend) zu Füßen liegen; wenn aber der Geist nicht an den Lotusfüßen des Gurus hängt, wozu (dies alles)? Wozu? Wozu? Wozu? (5)

yasho me gatam dikshu dânapratâpat-jagadvastu sarvam kare yatprasâdat |
manashchenna lagnam guroranghripadme tatah kim tatah kim tatah kim tatah kim || 6

In alle Richtungen ist mein Ruhm vorgedrungen durch die Macht der Gaben; alle Dinge der Welt sind infolge dieser Gunst in (meiner) Hand; wenn aber der Geist nicht an den Lotusfüßen des Gurus hängt, wozu (dies alles)? Wozu? Wozu? Wozu? (6)

na bhogo na yogo na vâ vâjirâjau na kântamukhe naiva vitteshu chittam |
manashchenna lagnam guroranghripadme tatah kim tatah kim tatah kim tatah kim || 7

Der Geist (hängt) nicht (mehr) am Genuß der Sinne, nicht an dem durch Yoga-Übung Erreichtem; nicht an Heldentum und Königswürde, nicht am Antlitz der Geliebten, nicht an den Besitztümern; wenn aber der Geist nicht an den Lotusfüßen des Gurus hängt, wozu (dies alles)? Wozu? Wozu? Wozu? (7)

aranye na vâ svasya gehe na kârye na dehe mano vartate me tvanarghye |
manashchenna lagnam guroranghripadme tatah kim tatah kim tatah kim tatah kim || 8

Mein Geist lebt nicht in den Wäldern, nicht im eigenen Haus, nicht in dem (alltäglich) zu Tuenden, nicht im Körperlichen, nicht im (Wunsch nach) unschätzbaren (materiellen Dingen); wenn aber der Geist nicht an den Lotusfüßen des Gurus hängt, wozu (dies alles)? Wozu? Wozu? Wozu? (8)

zurück an den Anfang

 

NIRVÂNA-SHATKAM [Shrî Âdi-Shankarâchârya]

Nirvâna-Shatkam (Sechs Verse über das Nirvana), auch genannt Âtma-Shatkam (Sechs Verse über das Selbst) – dieses dem Âdi-Shankara (vermutlich 8. Jahrhundert) zugeschriebene kurze Werk kann als Essenz der Letzten Wahrheit bezeichnet werden. Es gibt zwei unterschiedliche Legenden über die Entstehung des Nirvâna-Shatkam.

1. Auf der Suche nach einem Guru wanderte Shrî Shankara einst an den Ufern des Flusses Narmada. Dort begegnete er dem Rishi (Seher, Erleuchteter) Shrî Govinda Bhagavadpâda. Dieser fragte den achtjährigen Shankara: »Wer bist du?« Und Shankara antwortete ihm mit den sechs Versen des Âtma-Shatkam. Als der Rishi dies hörte, nahm er Shankara sofort als seinen Schüler an.

2. Als Shrî Shankara sich in Kâshî (Benares) aufhielt, begegnete ihm eines Tages auf dem Weg zum Ganges, wo er sein tägliches Bad nehmen wollte, ein Chândâla (»Hundefleischesser«, d.h. ein Unberührbarer, dessen Aufgabe in Kâshî war, die Körper der Toten zu verbrennen). Shankara forderte ihn auf, den Weg freizumachen; nach traditionellem Verständnis durfte nicht einmal der Schatten eines Unberührbaren auf einen Brahmanen fallen. Anstatt wegzugehen, sagte der Chândâla zu Shankara: »Wer bist du?« Da Shankara bewusst war dass kein gewöhnlicher Mensch diese Frage stellen würde, überkam ihn die Gewissheit, dass Shiva selbst, der HERR von Kâshî, in Gestalt eines Unberührbaren vor ihm stand. Er bat um Verzeihung, und bei nächster Gelegenheit fiel er in einen tiefen Meditationszustand, bei dem auf die in Indien so berühmte Frage »Wer bist du?« als Antwort in seinem Inneren die Aufzählung erfolgte, was er NICHT ist. So erreichte Shrî Shankara bereits in jungen Jahren (er starb 32jährig im Himâlaya) die Erkenntnis, die er in einem einzigen Satz predigte:

brahma satyam jagan-mithyâ jivo brahmaiva nâparah

Die Welt ist eine Täuschung; die einzige Wirklichkeit ist Brahman. Der Jîva ist niemand anderer als Brahman.

brahman = Gott; satya = Wahrheit, Wirklichkeit; jagat = Welt, Universum; mithyâ = falsch, unwahr; jîva = das Selbst, die individuelle Seele; brahmaiva = brahman + eva → brahman = Gott; eva (das vorausgehende Wort hervorhebend) = eben, nur, wahrlich; nâparah = na + apara → na = nicht; apara = ein anderer

♦ ♦ ♦

mano-buddhyahamkâra-chittâni nâham
na cha shrotra-jihve na cha ghrâna-netre
na cha vyoma bhûmir na tejo na vâyuh
chid-ânanda-rûpah shivo’ham shivo’ham [1]

Ich (bin) nicht Geist, Intellekt, Ich-Bewusstsein, Gedächtnis;
und nicht Gehör, Zunge, nicht Nase, Augen;
und nicht Himmel, Erde, nicht Feuer, nicht Wind –
ich (bin) Shiva, ich (bin) Shiva, das Wesen von Bewusstsein (und) Glückseligkeit. [1]

na cha prâna-samjño na vai pañcha-vâyuh
na vâ sapta-dhâtur na vâ pañcha-koshah
na vâk pâni-padau na chopastha-pâyû
chid-ânanda-rûpah shivo’ham shivo’ham [2]

Und nicht Prana noch die fünf Lebenskräfte;
nicht die sieben Körperelemente noch die fünf Hüllen (des Körpers);
nicht Sprache noch Hände (und) Füße, nicht Fortpflanzungs- und Ausscheidungsorgane –
ich (bin) Shiva, ich (bin) Shiva, das Wesen von Bewusstsein (und) Glückseligkeit. [2]

na me dvesha-râgau na me lobha-mohau
mado naiva me naiva mâtsarya-bhâvah
na dharmo na chârtho na kâmo na mokshah
chid-ânanda-rûpah shivo’ham shivo’ham [3]

Nicht (gibt es) in mir Abneigung und Zuneigung; nicht (gibt es) in mir Gier noch Täuschung;
nicht Stolz, nicht Neid, nicht das vierfache Ziel des Lebens (Dharma, Artha, Kama, Moksha) –
ich (bin) Shiva, ich (bin) Shiva, das Wesen von Bewusstsein (und) Glückseligkeit. [3]

na punyam na pâpam na saukhyam na duhkham
na mantro na tîrtham na vedâ na yajñâh
aham bhojanam naiva bhojyam na bhoktâ
chid-ânanda-rûpah shivo’ham shivo’ham [4]

Nicht Sünde, nicht Tugend, nicht Freude, nicht Leid;
(ich brauche) nicht Mantras, nicht Pilgerfahrten, nicht Schriften, nicht Opferrituale;
(ich bin) nicht das Genießen, nicht das zu Genießende, nicht der Genießer –
ich (bin) Shiva, ich (bin) Shiva, das Wesen von Bewusstsein (und) Glückseligkeit. [4]

na mrtyur na shankâ na me jâti-bhedah
pitâ naiva me naiva mâtâ na janma
na bandhur na mitram gurur naiva shishyah
chid-ânanda-rûpah shivo’ham shivo’ham [5]

(Ich kenne) nicht Tod noch Todesfurcht, nicht (gibt es) für mich eine Unterscheidung der Kasten;
wahrlich nicht Vater, nicht Mutter, nicht Geburt,
(ich habe) nicht Verwandte, nicht Freunde, weder Lehrer noch Schüler –
ich (bin) Shiva, ich (bin) Shiva, das Wesen von Bewusstsein (und) Glückseligkeit. [5]

aham nirvikalpo nirâkâra-rûpo
vibhutvâc cha sarvatra sarvendriyânâm
na châsangatam naiva muktir na meyah
chid-ânanda-rûpah shivo’ham shivo’ham [6]

Ich (bin) jenseits der Dualität, (mein) Wesen (ist) die Formlosigkeit;
und das Alldurchdringende, allgegenwärtig (und doch jenseits) aller Sinne;
(bin) nicht gebunden, nicht befreit, unermeßlich –
ich (bin) Shiva, ich (bin) Shiva, das Wesen von Bewusstsein (und) Glückseligkeit. (6)

zurück an den Anfang

 

»Erhebe dich! Erwache!« [Katha-Upanishad I.3.14]

Die Katha-Upanishad ist etwa 2500 Jahre alt; einer der so vielen Schätze Indiens. In der ganzen Welt berühmt wurde der erste Halbvers 14 von Kapitel I. 3 (uttishthata jâgrata prâpya varân nibodhata) durch Swami Vivekananda. Er zitierte allerdings den Satz nur zur Hälfte wörtlich (Erhebe dich! Erwache!), das andere ist sinngemäß: «Arise, awake ! And stop not till the Goal is reached!» • »Erhebe dich, erwache! Und ruhe nicht eher, als bis das Ziel erreicht ist!«

Der zweite Satz ist, wie gesagt, sinngemäß richtig. In den Begriffen des Originalverses sind allerdings so viele wichtige Dinge enthalten, dass eine wörtliche Übersetzung von Gewinn ist:

uttishthata jâgrata prâpya varân nibodhata |
kshurasya dhârâ nishitâ duratyayâ durgam pathas tat kavayo vadanti ||

uttishthata = erhebe dich; jâgrata = wach auf; prâpya = zu erlangen, zu erreichen; varân = vara = 1. bester unter, der Beste; 2. Gnade, Gnadengeschenk. Man übersetzt hier zweifach und meint dasselbe: erlangt habend die Gnade, gefunden habend den Guru; nibodhata = lerne, erkenne, sei wachsam, wach, bewußt, schärfe das Bewusstsein; kshurasya = des Rasiermessers; dhârâ = Schneide, Klinge, Kante; nishitâ= scharf, gewetzt, geschärft; duratyayâ = schwer zu überschreiten, zu ergründen; durgam = unwegsam, unzugänglich; pathah = Pfad, Weg; tat = dies, so; kavayah = die Weisen; vadanti = sagen, sprechen

Etwas genauer zu prâpya varân nibodhata 

prâpya ist das Gerundiv von pra + âp = erreichen, erlangen, erhalten, antreffen. Ein Gerundiv ist laut Duden »eine als Adjektiv fungierende Verbform mit passivischer Bedeutung, die eine Notwendigkeit ausdrückt«. Zum Beispiel: kar = tun; kartavya = was getan werden muß; bhû = sein; bhavya = was sein soll. Mit den Worten von H. C. Kellner »wird das Gerundiv durch Nebensätze mit indem oder nachdem übersetzt; es drückt also sowohl die gleichzeitige als auch die vollendete Handlung aus«. prâpya = »was erlangt werden muß« und »nachdem es erlangt wurde«. Die häufigste Wiedergabe lautet: »Erlangt habend die Gnade der Besten, sei wachsam!« Es kann auch heißen: »Sei wachsam, um die Gnade der Besten zu erlangen!« Mit gleicher Bedeutung, denn gesagt wird damit: Du brauchst eine Führung, weil der Weg schwer zu gehen ist. 

varân. Nach Shrî Shankarâchârya sind mit dem Plural varân gemeint: die Besten, die verwirklichten Gurus. In der Übersetzung unten stehen beide Begriffe (»die Gnade« und »die Besten«) vereint, weil es genau den Sinn von varân trifft: Erlangt habend die Gnade des Gurus … 

nibodhata ist der Imperativ (Befehl, Aufforderung) von ni + budh. Das Verbum budh ist eines von vielen Beispielen dafür, dass Sanskritbegriffe schlecht mit nur einem Wort übersetzbar sind. budh heißt nicht nur »erkennen, bemerken, wahrnehmen, achten auf«, sondern im eigentlichen Sinn »wachen, erwachen, wachsam sein, zum Bewusstsein kommen«, wie man am Buddha (»der Erwachte«) sieht. nibodhata = sei wach! Sei wachsam! Werde dir bewusst!

Dieser in die tiefsten Tiefen gehende Sanskritvers kann wie das Bhaja-Govindam und ähnliche Perlen als Essenz des spirituellen Weges angesehen werden. Was wird gesagt? Erstens: Wach auf aus deinem Schlaf der Verblendung (»du Tor«, wie Shrî Shankara anfeuert), strebe nach dem höheren Sinn des Lebens; suche den Guru und öffne dein Bewusstsein für die von ihm enthüllte Wahrheit. Zweitens: Ohne Guru geht es nicht, denn der unwegsame, schwer zu gehende geistige Pfad ist vergleichbar mit dem Gang auf der Schneide eines Rasiermessers.

uttishthata jâgrata prâpya varân nibodhata |
kshurasya dhârâ nishitâ duratyayâ durgam pathas tat kavayo vadanti ||

Erhebe dich! Erwache! Erlangt habend die Gnade der Besten, sei wachsam!
Schwer zu gehen ist auf des Messers Schneide; (so) der unwegsame Pfad (des Yoga), sagen die Weisen. ||

zurück an den Anfang

 

Der entscheidende Satz

Aus einer Szene des Films »Begegnungen mit bemerkenswerten Menschen« («Meetings with Remarkable Men», Peter Brook, GB 1978), in dem es um die spirituelle Suche des jungen Georges I. Gurdjieff (1866–1949) geht. Den geschilderten Dialog findet man ab Minute 70. Der Film ist in seiner Essenz wertvoll, weil er die klassische Situation beschreibt: Ein Mensch sucht nach dem Weg und irrt von hier nach dort, um am Ende, nach leidvollen, aufreibenden Erfahrungen erkennen zu müssen: Ich habe nichts gefunden.

Auf seiner mühsamen Wanderschaft im Kaukasus/Hindukush trifft Gurdjieff zweimal auf einen Dervish. Dieser speist ihn beim ersten Mal mit einem unverbindlichen Hinweis ab und lässt ihn wieder gehen. Am Ende seiner Irrfahrt sucht Gurdjieff den Dervish ein zweites Mal auf, und hier trifft man auf den folgenden Dialog:

Der Meister: »Hast du gefunden, wonach du gesucht hast?«

Gurdjieff: »Ich habe nichts gefunden. Ich weiß nicht wie ich suchen soll. Es gibt nie eine Antwort. Was kann ich jetzt tun? Ich bin verzweifelt.«

Der Meister: »Du wirst die Antwort niemals alleine finden. Alleine kann ein Mensch nur sehr wenig tun. Seine einzige Hoffnung ist es, einen Ort zu finden, an dem das wahre Wissen lebendig gehalten wird.« (nach kurzem Innehalten:) »Ich rate dir zu versuchen, die Sarmoung-Bruderschaft zu finden. Geh am (Fluss) Amudarja hinauf, Richtung Kafiristan. Es ist ein gefährliches Unterfangen, du wirst dein Leben riskieren! Aber im richtigen Augenblick wird sich ein Führer finden.«

Und Gurdjieff macht sich auf, die Geschichte gelangt zu ihrem guten Ende.

Der entscheidende Satz dieser bewegenden Szene ist:

»Alleine kann ein Mensch nur sehr wenig tun.«

Die Aussage deckt sich mit den Worten anderer Meister. Für einen wirklichen geistigen Fortschritt benötigt ein Suchender eine Führung.

Von einem großen christlichen Heiligen stammen die Worte: »Eine tugendhafte, aber alleinstehende und führerlose Seele gleicht einer brennenden Kohle: Anstatt sich mehr zu entzünden erkaltet sie.« [Juan de la Cruz, 1542–1591]

zurück an den Anfang

 

Höhere Ebenen …

»Wenn ein Mensch den Punkt erreicht hat, an dem er sechs Monate lang in Meditation sitzen kann, erübrigen sich Nahrungsaufnahme, Ausscheidungen oder was sonst noch. Nur ein Tropfen Amrita-Nektar vom Kopf in den Körper hält ihn am Leben. Wenn ein Tiger diesen Körper frisst ist das egal; nur wenn das Leben zum Körper zurückkehrt wird es Schmerzen geben.« [Shri Neeb Karori Baba Maharaj]


Über diese tiefgründigen Worte eines großen Heiligen wäre ein ausführender Kommentar nicht fehl am Platz (folgt).

Der Name Nîb Karorî Bâbâ (Hindî: Neeb Karori Baba) wurde seltsamerweise zum bedeutungslosen »Neem Karoli Baba« verhunzt. Siehe dazu die kritische Anmerkung hier, zweiter Absatz.

Shrî Nîb Karorî Bâbâ Mahârâj
[*? – †1973]


Dieses Bild – eine der relativ wenigen Aufnahmen von Shri Neeb Karori Baba Maharaj – berührt besonders. Da steht ein Wesen – im Vergleich zu uns Normalsterblichen ist hier der Ausdruck »Mensch« nicht mehr passend – der die höchsten Stufen der Geistigkeit erreicht hat. Barfuß, nur ein Lendentuch tragend, in eine billige Decke gehüllt. Dabei gehört er zu denen, die »König der Könige« genannt werden – vor ihnen haben im alten Indien die mächtigsten Herrscher ihre Knie gebeugt. Die extreme Schlichtheit, die absolute Bedürfnislosigkeit ist ein Schock für alles Weltliche – allerdings ein heilsamer, erhebender, motivierender. Eine leibhaftige Beschreibung dessen, was in der Shrîmad-Bhagavad-Gîtâ im 3. Gesang gesagt wird:

yas tv âtmaratir eva syâd âtmatriptash cha mânavah |
âtmany eva cha samtushtas tasya kâryam na vidyate || 17

Der Mensch, der allein am Âtman (Selbst) Freude hat, im Âtman sein Genüge hat,
im Âtman allein zufrieden ist, für ihn gibt es nichts zu Tuendes mehr. (17)

naiva tasya kritenârtho nâkriteneha kashchana |
na châsya sarvabhûteshu kashchid arthavyapâshrayah || 18

Nicht gibt es für ihn irgendeinen Nutzen durch das, was hier von ihm getan oder nicht getan wird;
und nicht nimmt er bei allen Wesen aus irgendeinem Grunde Zuflucht. (18)            

III, 18
»Er nimmt bei niemandem Zuflucht« – es lohnt sich, intensiv über diese Worte nachzudenken. Was die inflationär verwendeten Begriffe »Unabhängigkeit« und »Freiheit« wirklich bedeuten, dies kann man einzig und allein am Erleuchteten erkennen. Unter allen lebenden Wesen ist nur er FREI.

♦ ♦ ♦

Eine vollkommene Übereinstimmung des Gesagten (»extreme Schlichtheit, absolute Bedürnislosigkeit, heilsamer Schock, König der Könige«) erkennt man anhand dieser wundervollen und aussagekräftigen Aufnahmen:

Shrî Râmakrishna Paramahamsa
[1836–1886]

Bhagavân Shrî Ramana Maharshi
[1879–1950]

 

Bhagavân Shrî Nityânanda von Ganeshpuri
[1897–1961]

Shrî Sâî Bâbâ von Shirdi
[*?–†1918] 

 

Shrî Swâmî Nârâyanânanda Mahârâj
[1902–1988]

zurück an den Anfang

 

Will der Mensch nicht frei sein?

Diese unsterblichen Worte von Shri Ramakrishna Paramahamsa (1836–1886) findet man im 1898 erschienenen Buch von Prof. Max Müller: Ramakrishna. His Life and Sayings und sind dort unter Spruch 312 verzeichnet.

»Es gibt Menschen die, obwohl sie nichts mehr haben was sie in dieser Welt anzieht, sich selber einige Bindungen schaffen und so versuchen, sich an diese Erde zu fesseln. Sie wollen nicht frei sein und lieben es nicht, frei zu sein. Ein Mensch der keine Familie zu versorgen hat, keine Verwandten um die er sich kümmern muss, legt sich in der Regel als Haustier und Gefährten eine Katze zu, oder einen Affen, oder einen Hund, oder einen Vogel, und stillt so seinen Durst nach Milch durch das Trinken bloßer Molke. Solches ist die Macht der Mâyâ oder Unwissenheit über die Menschheit.«

 

»Wenn die Menschen ebensosehr an Gott hingen wie sie an den Sinnesgegenständen hängen, wer würde dann nicht aus der Gefangenschaft befreit? [Maitrî-Upanishad VI.34.5]


 

»Kannst du um Ihn weinen mit intensiver Sehnsucht? Die Menschen vergießen eimerweise Tränen für Kinder, Frau, Geld, usw.; wer aber weint um Gott?« [Shrî Râmakrishna Paramahamsa.]


zurück an den Anfang

 

»Om – Verehrung den strahlenden Gurus!«

Om Shrî Gurubhyo Namah – diese wundervolle traditionelle Anrufung wird häufig übersetzt mit: »Om, Verehrung dem strahlenden Guru!« Das ist nicht korrekt. Im Singular heißt es »shrî gurave namah«; gurubhyah ist der Dativ im Plural und bedeutet »den Gurus«. Den Verbindungsregeln (sandhi) des Sanskrit entsprechend wandelt sich das gurubhyah vor na (namah) zu gurubhyo. »Om, Verehrung den strahlenden Gurus!«

Damit ist eine subtile Botschaft verbunden. »Mein Guru ist der größte, seine Lehre ist die einzig wahre« – alle Erleuchteten haben diese Anschauung selbstverständlich von sich gewiesen. Erneut der weiter oben zitierte Satz: »Gott nimmt die Gestalt eines Gurus an und erscheint dem Verehrer.« Hat Gott nur eine Form? Shrî Ramana Maharshi bezeichnete eine solche, nicht selten anzutreffende Idee als typische Überspanntheit von Anfängern auf dem geistigen Weg.

Das Gesagte sollte allerdings nicht als Widerspruch zu einer anderen klassischen Aussage verstanden werden. Von Shri Swami Narayanananda hören wir:

»Halte dich an einen Guru, an einen Guru-Mantra und an eine Ishta-Devatâ (erwählte Gottheit). […] Habe vollstes Vertrauen in diese und führe dein Sâdhana mit Geduld und Ausdauer fort, bis du das Höchste erreichst. Anderenfalls wirst du dein Ziel mit Sicherheit verfehlen.«

Viele sind hier nicht einverstanden, bringen das Argument »Der Guru ist nur einer, Gott oder das Selbst«, und sagen, man dürfe nicht intolerant oder fanatisch sein. Selbstverständlich. Was aber die Konzentration, die Essenz des Yoga angeht, sind diese Worte des Meisters nichts anderes als logisches Denken. Ekâgrata, die Einspitzigkeit des Geistes, ist nur zu erreichen durch andauernde Übung (abhyâsa) der Konzentration auf ein einziges (eka) Prinzip (tattva), wie Shrî Patañjali im Sûtra erklärt (I.32).

Ähnlich sagte Shri Swami Vivekananda, man sollte »theoretisch« Toleranz und Liebe allen Religionen und Wegen gegenüber zeigen, aber in der Praxis einem einzigen Pfad folgen. Nur dann nämlich sei die Erlangung der wahren Konzentration und dann Meditation möglich. Das ist purer gesunder Menschenverstand. Jeder aufrichtige Sâdhaka (Übende) wird es bestätigen.

Es gibt eine bewegende Geschichte darüber, erzählt von Shri Swami Vivekananda [The Complete Works …, Volume 9]:

»Hanumân, der große Verehrer von Râma, lebte sehr lange. Zu seinen Lebzeiten erschien Râma wieder auf Erden in Gestalt von Krishna. Da Hanumân ein großer Yogi war wusste er, dass der eine Gott nun zurückgekehrt war als Krishna. Er kam und diente Krishna, aber er sagte zu ihm: ›Ich möchte Deine frühere Râma-Form sehen.‹ Krishna antwortete: ›Ist diese Form nicht genug? Ich bin Krishna, ich bin Râma. All dies sind meine Formen.‹ Hanumân erwiderte: ›Ich weiß das; aber die Râma-Form ist für mich. Krishna und Râma sind dasselbe. Sie sind beide die Inkarnation des Höchsten Selbst. Und dennoch ist der lotusäugige Râma mein Ein und Alles.‹ Das ist nishthâ – bei einer Form zu bleiben obwohl man weiß, daß alle die verschiedenen Formen der Verehrung recht sind.«

Im Sinne des letzten Halbsatzes kommt die traditionelle Anrufung zum Tragen: Om Shri Gurubhyo Namah – »Om, Verehrung den strahlenden Gurus!«

zurück an den Anfang

 

Nicht-Selbst und Selbst (Chândogya-Upanishad VIII.7)

[aus: Yoga-Sûtra. Der Yogaleitfaden des Patañjali. ©Raja Verlag]

♦ ♦ ♦

Eine der berührendsten, erleuchtendsten Geschichten aus den Upanishaden. Und eine der praktischsten, denn es geht um Erfahrungen, die wir alle jeden Tag und jede Nacht machen. Am Beispiel solcher Geschichten mag man erkennen, welch überragende Ebene der indische Geist erreicht hatte zu einer Zeit, als die Menschen des Westens noch in Fellen gekleidet durch die Wälder streiften auf der Suche nach Nahrung.

Welche Erkenntnis gewinnt man aus Wachzustand, Traum und Tiefschlaf? Dies ist ein Gedanke, den die Weisen Indiens bevorzugt gebrauchen, um zum Nachdenken anzuregen. Ausgegangen wird vom Yoga-Sûtra, wo Shrî Patañjali sagt (II.5): anitya-ashuchi-duhkha-anâtmasu nitya-shuchi-âtmâ-khyâtir avidyâ || »Im Nicht-Ewigen, im Unreinen, im Leidvollen und im Nicht-Selbst das Ewige, das Reine, das Freudvolle und das Selbst zu sehen ist Nichtwissen.« Und Avidyâ, das Nichtwissen, ist die Ursache für unsere Irrfahrt im Samsâra.

Das Nicht-Selbst für das Selbst zu halten (YS II.5); sich mit den Vrittis, mit dem eigenen Geist zu identifizieren (YS I.4); eine Erkenntnis aus Traum und Tiefschlaf zu gewinnen (YS I.38) – dazu nun die berühmte, wundervolle Lehrgeschichte aus der Chândogya-Upanishad. In Anbetracht der Länge des Textes wird man verstehen wenn – mit Ausnahme der Eingangsworte – auf das Sanskrit verzichtet wird: 

VIII.7: ya âtmâ apahata-pâpmâ vijaro vimrityur vishoko vijighatso'pipâsah … iti ha prajâpatir uvâcha

VIII.7: Den Âtman [das Selbst], der frei ist von allem Bösen, frei von Alter und Tod, frei vom Kum­mer, von Hunger und Durst …, ihn soll man suchen, ihn soll man zu erkennen wünschen. Wer diesen Âtman findet und erkennt, erlangt alle Welten und alle Wünsche. So sprach Prajâpati [der Herr der Geschöpfe]. 

Dies hörten die Götter und auch die Dämonen, und sie sprachen: Wohlan! Lasst uns den Âtman suchen …; und von den Göttern wurde Indra, von den Dämonen Virochana ausgesandt. Ohne voneinander zu wissen, erschienen beide vor Prajâpati.

Nachdem sie zweiunddreißig Jahre bei ihm im Stande der Schülerschaft gelebt hatten, fragte Prajâpati, in welcher Absicht sie gekommen wären; und sie sagten, sie wollten von Ihm über das Selbst hören.

Prajâpati sprach [sich zunächst auf ihre Ebene stellend]:

»Der Purusha [Mensch], welcher [als Spiegelbild] im Auge gesehen wird, er ist das Selbst, das Unsterbliche, Furchtlose, das Brahman!« Indra und Virochana [Seher und Gesehenes gleichsetzend – siehe Yoga-Sûtra II.6 – fragten zur Bestätigung]: »Wer ist jener, der im Wasser und im Spiegel zu sehen ist?« Prajâpati: »Betrachtet euch in einem Gefäß mit Wasser. Was seht ihr?« – »Wir sehen vollständig uns selbst als Spiegelbild.« – »Nun schmückt euch, legt prächtige Kleider an und blickt erneut ins Wasser.« Die Schüler [mit dem Wechsel ihrer selbst auch das Selbst als wechselnd ansehend]: »Ebenso geschmückt und prächtig gekleidet, wie wir es sind, o Herr, ist das Selbst geschmückt und gekleidet.« – »Dies«, sprach Prajâpati, »ist das Selbst, das Unsterbliche, Furchtlose, das Brahman!« Da zogen Indra und Virochana friedlichen Herzens fort. Prajâpati aber sah ihnen nach und sprach: »Da gehen sie hin, ohne das Selbst gefunden zu haben. Wer von den Göttern oder Dämonen dieser Lehre folgt, wird verloren sein.«

Zufrieden kam Virochana zu den Dämonen zurück und verkündete ihnen [Körper und Geist für das Selbst haltend]: »Man soll sich glücklich machen, sich selbst dienen! Wer dies tut, erlangt beides, diese Welt und die jenseitige.« Daher nennt man hier auf Erden heute noch einen, der nicht spendet, nicht glaubt und nicht opfert, einen Dämonen; denn dies ist die Lehre der Dämonen. Sie richten sogar den Körper von Verstorbenen mit schönen Kleidern und mit Schmuck her, weil sie glauben, dadurch die jenseitige Welt zu gewinnen.

Indra aber kam auf dem Weg, noch ehe er bei den Göttern angekommen war, dies Bedenken: »So wie das [angebliche] Selbst schön gekleidet und geschmückt ist, wenn der Körper schön gekleidet und geschmückt ist, ebenso muss ja das Selbst blind in einem blinden, lahm in einem lahmen, verstümmelt in einem verstümmelten Körper sein. Es geht zugrunde, wenn der Körper zugrundegeht. Ich sehe darin nichts Erfreuliches.« Und er kehrte um.

Prajâpati sagte zu ihm: »Du zogst doch mit Virochana friedlichen Herzens von dannen. Mit welchem Wunsch kehrst du zurück?« Und Indra legte sein Bedenken vor … »So wie du sagst, o Indra«, sprach Prajâpati, »genauso ist es! Ich will es dir nun weiter erklären. Bleibe bei mir.« Und Indra blieb weitere zweiunddreißig Jahre bei Prajâpati.

Dann sprach dieser zu ihm: »Das, was im Traumzustand glücklich umherstreift – das ist das Selbst, das Unsterbliche, Furchtlose, das Brahman.« Friedlichen Herzens zog Indra von dannen. Noch ehe er aber bei den Göttern angekommen war, kam ihm das Bedenken: »Wenn auch das Selbst nicht blind ist, wenn der Körper blind ist, noch lahm, wenn dieser lahm ist; wenn auch das Selbst von den Gebrechen des Körpers nicht in Mitleidenschaft gezogen wird …, so scheint es [im Traum] dennoch, als würde es getötet, als würde es bedrängt, als würde es Unangenehmes erfahren, als würde es weinen. Ich sehe darin nichts Erfreuliches.« Und er kehrte abermals zu Prajâpati zurück.

»O Indra! Du bist doch friedlichen Herzens von hier gegangen; welcher Wunsch bringt dich zurück?« Und Indra legte erneut sein Bedenken vor … »Genauso ist es, Indra! Nun will ich es dir weiter erklären. Bleibe noch zweiunddreißig Jahre bei mir.« Dann sprach Prajapati zu ihm: »Wenn man im (Tief)schlaf sich befindet, ganz in sich zurückgezogen [wenn der Geist in die Lebenskraft eingegangen ist], vollkommen friedlich, ohne Traum – dies ist das Selbst, das Unsterbliche, Furchtlose, das Brahman!«

Friedlichen Herzens zog Indra wieder von dannen. Noch ehe er aber bei den Göttern angekommen war, kam ihm das Bedenken: »In diesem Zustand [des Tiefschlafs] hat man doch keinerlei Bewußtsein, man weiß nicht: ›Dies bin ich‹, noch kennt man die anderen Wesen. Man ist wahrlich wie ausgelöscht. Darin sehe ich nichts Erfreuliches.« Und abermals kehrte er zu Prajâpati zurück. Dieser sah ihn kommen und sprach: »O Indra, friedlichen Herzens bist du doch von hier gegangen; warum kommst du wieder?« Und Indra legte ihm seinen Zweifel vor …

Prajâpati sprach: »So ist es! Ich will dir eine letzte Aufklärung geben; bleibe noch fünf Jahre bei mir.« Und so blieb Indra insgesamt hundertundein Jahre bei Prajâpati. Am Ende sprach dieser: »O Indra, sterblich fürwahr ist dieser Körper, vom Tod umfangen. Er ist der Sitz des unsterblichen, körperlosen Selbst. Dieses ist den Erfahrungen von Freude und Leid ausgesetzt, solange es in einem Körper wohnt. Der Verkörperte vermag Freude und Leid nicht abzuwehren. Wer aber körperlos ist, der wird von Freude und Leid nicht berührt … Körperlos ist der Wind, körperlos sind Wolken, Blitz und Donner. So wie diese sich aus dem Raum erheben, in das höchste Licht eingehen und in ihrer eigenen Gestalt hervortreten, ebenso erhebt sich ›die vollkommene Ruhe‹ [die Seele] aus diesem Körper, geht in das höchste Licht ein und tritt in der eigenen Gestalt hervor. Dies ist der höchste Purusha.

Wenn das Auge sich auf den Raum richtet, so ist es der Purusha im Auge, welcher sieht; das Auge ist nur das Werkzeug zum Sehen. Und wer sich bewusst ist: ›Dies will ich riechen‹, das ist das Selbst; die Nase ist nur das Werkzeug zum Riechen. Wer weiß: ›Das will ich sagen‹, das ist das Selbst; die Stimme ist nur das Werkzeug zum Sprechen. Wer sich bewusst ist: ›Dies will ich hören‹, das ist das Selbst; das Ohr ist nur das Werkzeug zum Hören. Und wer weiß: ›Das will ich denken‹, das ist das Selbst; der Geist ist sein göttliches Auge. Mit diesem göttlichen Auge, dem Geist, schaut das Selbst auf die Wünsche und freut sich in der Welt.

Die Götter verehren dieses Selbst; darum sind alle Welten ihrer und die Erfüllung aller Wünsche. Derjenige erlangt alle Welten und alle Wünsche, der das Selbst findet und erkennt. So sprach Prajâpati, so sprach Prajâpati.   [Chândogya-Upanishad VIII.7–12]

zurück an den Anfang

 

Intelligenz ist Unwissenheit

»Intelligenz ist in ihrer Begrenztheit nur ein anderer Name für Unwissenheit. Wenn ein Mensch das wahre Wissen erlangen und alle Geheimnisse enträtseln will, gebe er sich dem Wissen um Gott hin.« [Swami Brahmananda]


Shrî Swâmî Brahmânanda Mahârâj
[1863–1922]


Shri Swami Brahmananda Maharaj war ein direkter Schüler von Shri Ramakrishna Paramahamsa und späterer Präsident des Ramakrishna Math (Ramakrishna-Mission) in Belur Math, Bengalen. Einer seiner Schüler, Swami Prabhavananda, verfasste in Zusammenarbeit mit anderen Mönchen ein kleines Buch, The Eternal Companion (»Der ewige Gefährte«). Wie der Untertitel sagt (His Life and Teachings) geht es um die Biographie des Heiligen und aus seinen Unterweisungen für die Schüler, aus tröstenden und ermunternden Ratschlägen, aus tiefster praktisch angewandter Weisheit. In Sachen Inspiration steht The Eternal Companion in meinen Augen neben der göttlichen Bhagavad-Gîtâ ganz oben.

zurück an den Anfang

 

Der Sinn der menschlichen Geburt

»Menschliche Geburt ist selten und sehr schwer zu erlangen. Moksha (Freiheit) kann nur durch menschliche Geburt erreicht werden. Es wird gesagt dass ein Jîva (die Seele) nach acht Millionen Geburten und Tode menschliches Leben erlangt. Selbst nach Erlangung menschlichen Lebens ist es sehr schwer, einen gesunden Körper und einen scharfen Intellekt zu haben. Hat ein Mensch all diese Dinge erlangt, muss er Gebrauch von ihnen machen, um Moksha zu erreichen. Tut er das nicht, ist solch ein kostbares Leben eine bloße Verschwendung.« [Shrî Swâmî Nârâyanânanda]

Shrî Swâmî Nârâyanânanda Mahârâj
[1902–1988]

 

»Nach dem Sinn des Lebens zu suchen ist das Ergebnis guten Karmas aus vergangenen Geburten. Jene, die nicht nach dieser Erkenntnis streben verschwenden nur ihr Leben.« [Shrî Ramana Maharshi]

Bhagavân Shrî Ramana Maharshi
[1879–1950]

 

»Wer das wahre Ziel des Lebens nicht kennt, ist ein Tier. Dieses Ziel ist Wunschlosigkeit. Wer sich dieser Tatsache nicht bewusst ist, ist kein Mensch. Der Mensch, die Krone und der Höhepunkt der Schöpfung Gottes, darf nicht wie ein Frosch sein, der unter Wasser sinkt und immer wieder über Wasser aufsteigt. Das menschliche Leben ist kein Vergleich zu dem des Frosches. Dieses Leben kann nicht immer erlangt werden. Wenn wir es erlangt haben, sollten wir uns bemühen, das Ziel des Lebens zu erreichen. Mahlzeiten können nicht vor dem Kochen eingenommen werden. Die Kraft der Unterscheidung ist das Feuer; Intelligenz ist das Gefäß; Mukti (Erlösung, Freiheit) ist das Ziel des Lebens.« [Bhagavân Shrî Nityânanda von Ganeshpuri]


Bhagavân Shrî Nityânanda von Ganeshpuri
[1897–1961]

 

»In dieser Welt leiden zahllose Wesen alle Arten von Schmerzen. Das Alter wartet gleich einer Tigerin. Das Leben fließt fort wie Wasser aus einem zerbrochenen Krug. Krankheit tötet wie ein Feind. Reichtum ist nur ein Traum; Jugend gleicht einer Blume. Das Leben blitzt auf und schwindet wieder. Der Körper ist wie eine Wasserblase. Wie kann man dies wissen und dennoch zufrieden sein? Der Jîvâtman (die Seele) durchläuft hunderttausende von Existenzen, doch nur als Mensch kann er die Wahrheit erlangen. Es ist sehr schwer als Mensch geboren zu werden. Darum ist ein Selbstmörder wer nicht weiß was ihm gut tut, nachdem er solche herausragende Geburt erlangt hat.« [Kulârnava-Tantra • aus: Sir John Woodroffe. Shakti and Shakta.]

zurück an den Anfang

 

Des Himmels Weg

»Geht man nicht aus der Tür, kennt man die Welt. Blickt man nicht aus dem Fenster, sieht man des Himmels Weg. Je weiter man ausgeht, desto weniger kennt man.« [Lao-Tse 47, Übersetzung Victor von Strauß]


«Not going outside, you know the world. Not looking through the window, you see the way of heaven. The farther you go, the less you know.»

»Sans sortir de la porte, connaître le monde ! Sans regarder par la fenêtre, voir la Voie du ciel ! Plus on sort loin, moins on connaît.«

zurück an den Anfang

 

Meine Geschichte mit dem Meister

Ich habe – leider – niemals Notizen gemacht und schreibe aus der Erinnerung.

Einleitung

Maribeth Gray (Swami Omkarananda), eine amerikanische direkte Schülerin von Shri Swami Narayanananda (1902–1988) wurde immer wieder von Freunden und Bekannten gebeten, etwas über den weitgehend unbekannten Heiligen zu sagen und Ihn zu beschreiben.

So veröffentlichte sie eine Reihe von persönlichen Geschichten anderer direkter Schüler über den Meister. Diese Geschichten erschienen in vier Bänden in den Jahren 2015–2017.

In Band 3 ist auch meine Erzählung (in englischer Sprache) zu finden. Nachfolgend die deutschsprachige Fassung mit einigen Hinzufügungen an Text und Bildern.

Vor der Begegnung mit Shri Swamiji

Ich wurde 1950 in Brixen, Südtirol geboren. Früh war mir bewusst dass das Leben eine Mischung aus gutem und schlechtem Karma ist. Ich lebte in einem der schönsten Länder der Erde, gleichzeitig gab es eine extreme Armut, da der Vater die Familie verließ und meine Mutter vier Kinder unter sehr schwierigen Bedingungen großziehen mußte. Ich bewegte mich täglich zwischen wirtschaftlichen Schwierigkeiten, Krisen und Krankheiten einerseits und meiner spirituellen Welt andererseits.

Beginnend mit vier Jahren kam eine Fülle von eindeutigen Erinnerungen an frühere Leben – Bilder und Stimmungen, die niemand erklären konnte; ich galt als träumerisches, extrem schüchternes, die Einsamkeit liebendes Kind. Die starke Sehnsucht, die ich empfand, war erfüllend und zugleich schmerzlich, weil ich sie nicht einordnen konnte – Sehnsucht nach was?

Das Wissen, viele frühere Leben in Klöstern verbracht zu haben prägten mein gutes Verhältnis zur katholischen Kirche. Die Verbindung war auch im jetzigen Leben so stark, dass ich mehrmals Mönch und Priester werden wollte. Aber es sollte wohl karmisch so sein dass alles auf Höheres zulief, gemäß den tiefgründigen Worten der Shiva-Samhitâ I.17/18: »Nach Durchsicht aller Schriften und nach ihrer gründlichen Erwägung erweist sich der vollendete Yoga als die höchste Lehre. Wenn man sie verstanden hat, hat man gewiss alles verstanden. Wozu bedarf es dann noch anderer Lehren?« 

Brixen, Südtirol (um 1930)

Im Alter von fünfzehn Jahren wurden die materiellen, sozialen und emotionalen Probleme so groß, dass ich die Schule abbrechen musste und acht Jahre lang vielen Gelegenheitsarbeiten nachging, ohne Pläne und Ziele. Während dieser außerordentlich schwierigen, bis zum heutigen Tage unverständlich gebliebenen Zeit – sie drückte den folgenden Jahrzehnten einen gewaltigen karmischen Stempel auf – verschwand der größte Teil der spirituellen Welt aus meinem Geist, nur die Sehnsucht blieb.

Nach dem Tode meiner Mutter verließ ich 1973 Südtirol und zog nach Karlsruhe, wo ich meine Lebensgefährtin traf. Nach einiger Zeit hatte ich das Glück, Musik studieren zu dürfen. Mit dem Eintritt in die Welt der Kampfkunst erwachte gleichzeitig die Spiritualität wieder; ich wurde Buddhist. Beim Studium der Schriften verstand ich, dass für einen weiteren Fortschritt ein lebender Meister vonnöten war, fand aber zunächst niemanden.

1977 entdeckte ich Paramahamsa Yogânandas Autobiographie eines Yogi. Von diesem Moment an gab es für mich nur noch den Yoga, alles andere wurde zweitrangig. Ich meldete mich in Los Angeles und bezog die Lehrbriefe der Self-Realization Fellowship (SRF).

1979 erfuhr meine Lebensgefährtin, dass ein Erleuchteter in Dänemark zu Gast war. Stets auf das Praktische bedacht, reiste sie in das N.U.Yoga-Camp nach Gylling auf Jütland. Und kam nach Mantra-Dîkshâ (dîkshâ = Einweihung) als Schülerin von Shri Swami Narayanananda zurück. Ich war überrascht, gleichzeitig freute ich mich für sie. Sie zeigte mir ein Bild des Meisters und gab mir dessen Grundlagenwerk Das Geheimnis der Geisteskontrolle zu lesen, aber weder das Bild noch die Schrift sprachen mich damals an. So kam es, dass es in unserem Meditationsraum zwei Bilder gab; eines von Shri Swami Narayanananda, eines von Paramahamsa Yogananda.

Mittlerweile hatte ich das Studium und die Übungen der SRF-Lehrbriefe beendet und sollte mich zur endgültigen Einweihung (Kriya-Yoga) in Los Angeles melden. Mir war aber zu jener Zeit klar, dass ich mit der angebotenen Meditationstechnik nicht arbeiten konnte. Das war schmerzlich, da ich Paramahamsa Yogananda liebte.

[Später, unter dem Einfluss der einzigartigen Lehre von Swami Narayanananda, nahm ich zwar etwas Abstand von der Autobiographie eines Yogi und von ihrem Autor. Dennoch verdanke ich Paramahamsa Yogananda meinen fulminanten Einstieg in den Yoga.]

Zur rechten Zeit – Gottes Wege sind unerforschlich – kam ein anderes Buch zu mir, Das Evangelium von Shri Ramakrishna. Ich war von der ersten Sekunde an in den Heiligen verliebt.

Im Gospel ist vom Namen Gottes (mantra) als Meditationstechnik die Rede. Nun wusste ich: »Das ist es, ich benötige einen Mantra!«

[Im deutschen Sprachgebrauch hat sich das Mantra (n.) durchgesetzt; ich folge den klassischen Wörterbüchern: der Mantra (m.).]

Aber woher, von wem? Ich las, dass manchen Wahrheitssuchern die Gnade widerfährt, ihren Mantra während der Meditation in feuriger Schrift auf einer Wand zu sehen oder im Traum zu erhalten. Wie vermessen dies zu erwarten, es passierte nichts. Ich war in Not, und so betete ich aus tiefstem Herzen zu Shri Ramakrishna und zu den höheren Mächten um Hilfe, um einen Mantra.

1980 kam Shri Swamiji (Shri Swami Narayanananda) zum ersten Mal nach Blansingen (Süddeutschland, in der Nähe von Lörrach) in den dortigen N.U.Yoga-Ashram (8.–22. September). Meine Lebensgefährtin fragte mich, ob ich mit ihr nach Blansingen kommen wollte. Ich zögerte nur kurz, da ich mich an eine wichtige Aussage von Paramahamsa Yogananda erinnerte: »Wenn sich ein Heiliger in deiner Nähe aufhält, musst du Ihn unbedingt besuchen; es nicht zu tun wäre ein großer karmischer Fehler.«

Nun, dass es sich bei Shri Swamiji um einen Heiligen handelte, dies bezweifelte ich keinen Augenblick. So fuhr ich im September 1980 nach Blansingen. Lediglich um den Meister zu sehen, um Ihm zu sagen dass ich der Partner Seiner Schülerin bin und um Ihm meine Verehrung zu erweisen. Weiter wollte ich nichts.

Erste Begegnung mit Shri Swamiji, 1980

Ich kam alleine an einem Wochenende in Blansingen an (13. September 1980), meine Lebensgefährtin war bereits dort. Es war Mittag, der private Darshan gerade zu Ende gegangen (darshana = »Sicht, Anschauung«). Nach der 16-Uhr-Meditation gab es den Satsanga in der Gemeindehalle des Dorfes (satsanga = »Gemeinschaft mit den Guten, Heiligen«). Hier sah ich Shri Swamiji zum ersten Mal. Ich war beeindruckt von Seiner majestätischen Art, gleichzeitig eingeschüchtert von Seiner Strenge. Antworten wie jenen von Shri Swami Narayanananda war ich auf meinen früheren Reisen in die Spiritualität nie begegnet, ich musste mehrmals durchatmen. Persönlich stellte ich keine Fragen. In Blansingen war täglich gemeinsamer Darshan; ich hatte dadurch das Glück und die Gnade, dort in den Jahren 1980–1984 bei zahlreichen Gesprächen mit dem Meister anwesend zu sein.

Darshan mit Shri Swami Narayanananda
im N.U.Yoga-Âshrama Gylling, DK
©N.U.Yoga Trust Gylling


Am übernächsten Tag (Montag, 15. September 1980) stand ich in der Warteschlange für den privaten Darshan im Gang des Ashrams. Ich sah  dass alle Neuen in Begleitung des Übersetzers zum Meister gingen, zog es aber vor, seine Hilfe nicht in Anspruch zu nehmen; eine gute Entscheidung, da ich Shri Swamiji sofort ohne die geringste Schwierigkeit verstehen konnte.

[Im Rückblick fiel mir auf: Obwohl ich zum ersten Mal im Leben einen Inder englisch sprechen hörte und mein eigenes Englisch beschränkt war, erschien mir dieses Treffen so familiär, dass der Eindruck aufkam, mich mit einem guten Bekannten zu unterhalten.]

Als meine Lebensgefährtin von ihrem Darshan zurückkam – wir gingen in all den Jahren, mit einer einzigen Ausnahme, getrennt zum Meister – trat ich ein, ging in die Knie und verneigte mich. Der Meister sagte nichts, es war also an mir etwas zu sagen:

»Ich bin der Partner Deiner Schülerin …« Der Meister nickte wohlwollend. »Ich wollte fragen ob es problematisch ist, wenn wir im selben Raum auf zwei Meister meditieren.« Shri Swamiji: »Kein Problem.« Ich dankte und wollte mich zum Abschied erneut verneigen, als Er sagte: »Erzähle mir, was du machst.« Als ich antwortete »Ich bin Musiklehrer und …« unterbrach Er mich: »Nein, was du im Yoga machst.« Ich begann von den Lehrbriefen der SRF zu sprechen, da senkte Er den Kopf, Sein Gesicht zeigte ein deutliches Missfallen. Ich war irritiert, redete aber weiter. Von Satz zu Satz wurde Sein Missfallen größer, und meine Irritation ebenfalls. Als ich schließlich verwirrt aufhörte zu reden, griff der Meister unvermittelt hinter sich und holte ein Notizbuch hervor: »Ich werde dir jetzt einen Mantra geben, dann wird alles gut sein.« Das war für mich ein Schock, und sofort erwiderte ich: »Nein!« Auf Seine Frage »Warum nicht?« legte ich die Hand aufs Herz und gab Ihm ohne Worte zu verstehen: »Weil da schon jemand anderer wohnt.« Shri Swamiji sagte in völligem Gleichmut »in Ordnung«, legte das Notizbuch weg und schwieg. Als er dann nach kurzer Pause fragte: »Und (nun)?« war ich in größtem Stress.

[Das Zeichen war: Jetzt bist du dran! Im Sinne Seines berühmten »Was willst du?«. Besonders Shri Swamijis letztes »Und?« im privaten Darshan in Gylling 1987 werde ich nie mehr vergessen; siehe später. Das für alle Erleuchtete charakteristische »Was willst du?« ist eine veritable Stressfrage. Es ist schwierig sagen zu können was man will, und noch schwieriger zu sagen, was man wirklich will, denn dies erfordert Klarheit, Entschlossenheit und Aufrichtigkeit.]

Ich musste die für mich unerträgliche Stille beenden. Als ich den Mund öffnete sagte ich etwas, dessen ich mir nicht bewusst war.

[Shri Swamiji hat mich oft ungewollt Dinge sagen lassen, obwohl ich das Gegenteil im Kopf hatte. Mir ging es zum Beispiel einmal sehr schlecht und ich wollte den geistigen Weg verlassen. Als mich jedoch der Meister fragte: »Was willst du?« kamen aus mir die Worte: »Ich will geistigen Fortschritt machen.« Worauf Er lächelnd sagte: »Dann mache Folgendes …« Ein echter Guru – ein Meisterpsychologe – zieht in Seinem Erbarmen das Unter- und Unbewusste des Schülers an die Oberfläche. Selbstverständlich nur zu dessen Wohl, auch wenn der Schüler sich solcher Dinge eben nicht bewusst sein mag.]

Ich sagte also: »Ich komme übermorgen wieder (warum ich »übermorgen« sagte – ich weiß es nicht …) und werde Dir meine Entscheidung mitteilen.« Wieder antwortete der Meister vollkommen gleichmütig »in Ordnung«, gab mir ein Prasâd (eine Süßigkeit als eine Art Gnade) und ich durfte gehen.

[Erst später glaubte ich mir erklären zu können, warum Shri Swamiji mir unverzüglich einen Mantra geben wollte. Ich bin überzeugt: Als ich Shrî Râmakrishna um einen Mantra bat, sorgten himmlische Mächte dafür, dass das Gebet direkt an Shrî Swâmî Nârâyanânanda ging und dass meine Lebensgefährtin mich zu Shri Swamiji leitete. Im Gegensatz zu mir war dem Meister der wahre Grund meiner Reise nach Blansingen klar …]

Draußen im Flur stand meine Lebensgefährtin. Es lag nahe dass sie geglaubt hatte, ich wäre soeben eingeweiht worden, entsprechend gespannt und freudig war ihr Gesichtsausdruck. Weit gefehlt; ich erzählte ihr aufgebracht was vorgefallen war und dass ich sofort den Âshrama verlassen wollte, worauf sie traurig wurde.

Durch ihren Zuspruch verließ ich den Ashram nicht, sondern ging mit den anderen in die Gemeindehalle zum Essen. Seltsamerweise kann ich mich nicht erinnern, ob ich trotz meiner Abneigung den öffentlichen Darshan am Nachmittag desselben Tages besuchte. Ich musste jedenfalls zur Ruhe kommen und hatte Zeit zum Nachdenken. Im öffentlichen Darshan am folgenden Tag kam schließlich die Klarheit. Ich blieb still, andere Besucher stellten – meine! – Fragen, und irgendwann schoss es mir durch Kopf und Herz: Dein Guru ist Shri Swami Narayanananda! Ich war längere Zeit danach aufgewühlt, fand aber in der Nacht meine Ruhe.

Am nächsten Morgen (Mittwoch, 17. September 1980) frühstückte ich nicht, zog mir weiße Kleider an, reihte mich in die Warteschlange ein und ging erneut ohne Übersetzer zum Meister. Nach Seinem mir schon vertrauten »Und?« sagte ich: »Ich war am Montag ein Dummkopf, ich bitte um Verzeihung. Und wenn Shri Swamiji noch immer einverstanden ist mich als Schüler zu nehmen, dann bitte ich demütig um Mantra-Dîkshâ.«

Ernst sagte der Meister »in Ordnung«, griff erneut nach hinten, holte Sein Notizbuch hervor. Nach der Frage »Welchen Aspekt Gottes liebst du am meisten?« erhielt ich einen wundervollen Mantra mitsamt den nötigen Hinweisen. Ich trug dann Namen und Adresse in Shri Swamijis Buch ein und erhielt das Mantra-Blatt (ein Merkblatt mit der schriftlichen Ausführung des vorher mündlich Mitgeteilten).

[Dort fiel mir schnell das Ende auf, wo als Unterschrift steht: »Dein eigenes Selbst.« Ich kannte das aus dem Studium der Schriften: »Îshvaro gururâtmeti … Gott, Guru und Selbst sind ein und dasselbe.« Aber diese Worte als reine Lektüre sind tot, das ergibt nur die Reaktion: »Aha.« Kniet man vor einem lebenden Meister und hört »Ich bin Dein Selbst«, ist das etwas unvergleichlich anderes. Dass der Guru Gott ist, geht aus dem klassischen Satz hervor: »Der Kenner Brahmans wird selbst zum Brahman.« Das ist einigermaßen verständlich, vor allem da der Begriff »Gott« in den großen Religionen nicht plausibel definiert wird. Dass der Guru das eigene Selbst ist halte ich dagegen für das Geheimnis aller Geheimnisse.]

Nach dem Erhalt eines Prasâds verneigte ich mich erneut und verließ den Raum. Draußen im Gang stand wieder meine Lebensgefährtin, und als sie das Mantra-Blatt in meiner Hand sah, freute sie sich für mich und strahlte.

Sie hatte den Meister gefunden, und durch sie kam ich zu Ihm. Dafür werde ich ihr dankbar sein bis ans Ende meines Lebens.

Blansingen 1980
im Garten des N.U.Yoga-Âshrama

Die nächsten Tage waren einfach wunderbar, der Meister überaus liebevoll, die Meditation endlich so, wie ich sie mir vorgestellt hatte während der Lektüre von Das Evangelium von Shrî Râmakrishna.

Zwei Tage nach Mantra-Dîkshâ sagte ich dem Meister, dass ich Mönch (Sannyâsin) werden wollte. Shri Swamiji antwortete: »Ja, komm im nächsten Jahr drei Monate nach Gylling (Dänemark), dort kannst du Sannyâsa nehmen.«

Drei Tage später war die Zeit des Abschieds, Shri Swamiji fuhr zurück in den dänischen Ashram und alle Leute nach Hause. Kurz vor unserer Abfahrt betraten meine Lebensgefährtin und ich noch einmal den Ashram. Und siehe, kaum standen wir im Flur, öffnete sich die Tür des Swamiji-Kutirs (kutira, kutîra, n. = »Hütte«), der Meister samt einigen Begleitpersonen stand zwei Meter vor uns. Er erblickte uns als wir uns verneigten, strahlte und sagte zu Seiner Entourage, auf mich zeigend: »Er will ein Mönch werden!« Alle nickten zustimmend, der Meister sah mich an und sagte laut: »Sei stark!« Ich war wie vom Blitz getroffen, faltete die Hände und antwortete: »Ja!« Wieder schaute Er mich an: »Sei stark!« »Ja!« Als Er zum dritten Male energisch sagte: »Sei stark!«, sagte ich erneut »Ja!« und mußte den Blick senken – die vom Meister ausgehende Kraft war zuviel. Ich verstand plötzlich die Aussage der Bibel, dass man Gott nicht ins Angesicht blicken kann. Shri Swamiji bemerkte meine Verlegenheit, wandte sich huldvoll ab und sagte zu Seinen Leuten: »Auf geht’s! Wir sind in Eile.« Und war weg.

Erstes Yoga-Camp, 1981

Ich durfte im Wagen der deutschen Âshramiten von Blansingen aus mit nach Gylling fahren. Der erste Aufenthalt im N. U. Yoga-Camp war eine Mischung aus guten Zeiten und Reaktionen, aus Hingabe und Zweifeln, aus körperlicher Fitness und gelegentlicher Erschöpfung, aus Bekanntem (aus den Schriften) und völlig Neuem (Shri Swamijis Unterweisungen). Anders als vom Meister im Jahr vorher erwähnt kam ich nicht für drei, sondern, wegen beruflicher Gründe, für zwei Monate ins Camp. Da hatte ich schon ein schlechtes Gewissen und ich bat den Meister beim ersten privaten Darshan um Verständnis dafür. Mit Seinem »das ist in Ordnung« nahm Er mir gleich die Last von den Schultern.

N.U.Yoga-Camp Gylling, Dänemark
©N.U.Yoga Trust Gylling

Die Studiengruppen erwiesen sich als hilfreich, aber der Höhepunkt waren selbstverständlich die öffentlichen (gemeinsamen) Darshans – leider nicht täglich wie in Blansingen! Zum Glück gab es aber wie in Blansingen die Gelegenheit, Shri Swamiji persönlich und täglich, jeden Vormittag, im privaten Darshan zu sehen und zu sprechen.

Ich war zu jener Zeit auf der Öko-Welle und trug einen Traum in mir, das Leben auf dem Lande. So kam es, dass ich am Anfang meiner Camp-Zeit Shri Swamiji im persönlichen Darshan fragte, was Er davon halten würde wenn meine Lebensgefährtin und ich die Stadt und damit auch unsere Arbeit aufgeben würden, um in einem Häuschen auf dem Land zu leben. Eine gedankenlose und praxisferne Vorstellung, die mich – uns – einige Jahre später ins Chaos stürzte.

[»Praxisfern«: Wie sonst ist jemand zu bezeichnen, der in der Stadt aufgewachsen ist, Lebensmittel nur aus Geschäften kennt, von Landwirtschaft nicht die geringste Ahnung hat, sich mit weltfremden Dingen wie Musik und Philosophie beschäftigt und unter solch negativen Voraussetzungen aufs Land ziehen will. »Gedankenlos«: Ich hatte mir tatsächlich keinerlei Gedanken gemacht über die Frage, von welchem Einkommen ich auf dem Land leben sollte und über weitere praktische Dinge, die dazugehören.]

Ein Meister weiß das natürlich alles im voraus. Shri Swamiji reagierte augenblicklich: »Lass uns nicht jetzt darüber sprechen!«, gab mir ein Prasâd und schon war ich draußen. Ich hätte bereits an Seinem Gesicht erkennen müssen dass diesbezüglich etwas nicht stimmte, aber mein Ego machte mich blind für Seine erste sozusagen Ermahnung.

[In den acht Jahren des persönlichen Kontaktes mit dem Meister war selbstverständlich immer wichtig, was Shri Swamiji sagte; aber tausendmal wichtiger erschien mir, wie Er es sagte. Ich lebe von, wie ich sie nenne, Sekundenphänomenen; ein einziges Bild, ein kurzer Blitz genügen und ich weiß. Solches Sekundenwissen bleibt für immer im Gedächtnis. Ich verstehe deswegen bis zum heutigen Tag nicht, warum mir die Gabe des Sekundenphänomens gerade in diesem wichtigen Augenblick abhanden gekommen war.]

Eine zweite Lektion erhielt ich wenig später. Mir ging es einige Tage sehr schlecht, ich aß daher zuviel usw. und fühlte mich nicht rein genug für den persönlichen Darshan. Als es mir wieder besser ging und den Meister morgens besuchte sagte Er: »Wo warst du die letzten Tage?« Ich stammelte etwas von Krise usw., der Meister unterbrach sofort: »Das ist nicht die rechte Art. Du musst jeden Tag kommen!«

Der Hauptgrund für meine Krisen im ersten Camp-Jahr war, dass ich trotz Mantra-Dîkshâ nicht von Paramahamsa Yogananda »weg war«, das gab, wie man sich denken kann, Probleme in der Meditation (Konzentration). Shri Swamiji hatte Seine besondere Methode um hier einzugreifen: Heute ein kurzer Satz im Morgendarshan, raus. Einen Tag und eine Nacht Zeit zum Nachdenken. Morgen erneut eine kurze Bemerkung und raus; Zeit zum Nachdenken … So ging es wochenlang. Aber irgendwann hatte ich verstanden, und damit war das Problem verschwunden.

Bei diesem Ringen mit dem Meister gab mir Shri Swamiji einmal den Hinweis: »Lies die Bücher.« Das tat ich, aber ich wurde damit nicht warm. Kennt man die Autobiographie eines Yogi und Das Evangelium von Shri Ramakrishna, dann erscheinen die Bücher von Swami Narayanananda zumindest anfangs als unpoetische, trockene, schwerverdauliche Schriften. Mein nächstes Problem! Ich liebte Shri Swamiji über alles, aber ich liebte Seine Bücher nicht – ein großer innerer Konflikt. Da ich nicht den Mut hatte selber zu fragen bat ich im nächsten öffentlichen Darshan den Übersetzer, es für mich zu tun. Dieser fragte also: »Was, wenn die Herzensbeziehung zum Meister hundertprozentig stimmt, Seine Schriften aber abgelehnt werden?« Ich hielt den Atem an, gespannt wie eine Feder. Shri Swamiji blickte den Übersetzer an und fragte: »Was ist in den Büchern?« Zu meiner größten Überraschung erwiderte der Übersetzer: »Nichts.« Darauf Shri Swamiji: »Und? Wo ist dann das Problem?« Göttliche Antwort! Innerhalb einer Sekunde war ich erlöst. Erstaunlich auch, dass ich bereits kurze Zeit später begeistert von Shri Swamijis Büchern und von Seinem einmaligen Schreibstil war.

Nach etwa einem Monat kam auch meine Lebensgefährtin ins Camp und blieb bis zum Schluss (bis zum Ende des Camps, Ende August). In all der Zeit meines Aufenthaltes hatte ich, bedingt durch Zweifel und Krisen, nicht ein einziges Mal mit dem Meister über meinen in Blansingen geäußerten Wunsch gesprochen, Mönch zu werden. Ja, wegen der heftigen Reaktionen im Camp wollte ich das gar nicht mehr, und die ganze Zeit dachte ich vor den privaten Darshans: »Hoffentlich spricht der Meister mich nicht darauf an.« Das tat Er nicht, ich war jedesmal erleichtert. Ich ging sogar so weit zu glauben: »Shri Swamiji hat das vergessen.« (!) Eine Woche vor dem Sannyâsa Day (Tag der Mönchsweihe) geschah es dann doch. Kaum war ich morgens in das Guru-Kutir eingetreten und hatte mich verbeugt, schaute der Meister mich durchdringend an: »Du wolltest doch letztes Jahr Mönch werden. Was ist jetzt damit?« Mir blieb kurz das Herz stehen. Aber schon nach wenigen Sekunden die nächste Überraschung. Anstatt wie eigentlich gewollt zu antworten »Es tut mir leid, ich kann und will nicht mehr ein Mönch werden« kam ein entschlossenes »Ja!« über meine Lippen. Und auf Seine Frage »Warum willst du Mönch werden?« kam die nächste nicht geplante Antwort: »Weil ich das in diesem Leben schon mehrere Male wollte und jetzt die beste Gelegenheit dazu ist.« Shri Swamiji: »In Ordnung.« Griff nach hinten, holte ein Blatt und schrieb meinen Namen in die Sannyâsa-Liste. Extragroßes Prasâd und raus.

Draußen der Schock! Meine Lebensgefährtin stand in der Warteschlange und kam als nächste zum Darshan. Ich hatte sie in diesem Moment völlig vergessen, unglaublich. Beinahe panikartig wollte ich zurück in das Guru-Kutir zum Meister, aber das ging ja nicht. Ich erzählte meiner Partnerin von meiner Entscheidung, Sannyâsa zu nehmen. War sie total überrascht oder schockiert? Ich kann mich nicht mehr daran erinnern. Es folgten ein langer Tag und eine lange Nacht in großer Anspannung. Wir waren nicht verheiratet, und ich hatte schon gehört und erlebt daß Paare sich in Verbindung mit dem Sannyâsa getrennt hatten.

Am nächsten Morgen – ich konnte es kaum erwarten, zählte jede Sekunde – eilte ich zum privaten Darshan, wie immer allein, ohne meine Lebensgefährtin. Als ich den Meister nach dem Verbeugen anschaute blickte ich in ein ernstes Gesicht, die Situation war entsprechend. »Gurudeva, ich bitte um Verzeihung, aber gestern vergaß ich zu sagen  dass ich Mönch werden, mich aber nicht von meiner Partnerin trennen will.« Shri Swamiji wurde noch ernster und fragte durchdringend: »Wie siehst du die Sache?« Ich sagte spontan, völlig ungeplant: »Ich bin nicht so stolz zu sagen, dass ich mein Brahmacharya (Enthaltsamkeit) nie brechen werden, aber niemals mit ihr.« Noch einmal ernster werdend fragte der Meister: »Warum?« Meine Antwort: »Weil ich sie als die Göttliche Mutter betrachte. Ich werde sie nie anrühren.« Da hellte sich Shri Swamijis Gesicht auf, und Er sagte: »Dann ist es in Ordnung.« Wieder ein großes Prasâd und raus. Dann ging meine Lebensgefährtin hinein, und wie sie mir berichtete war Shri Swamiji sehr liebevoll.

[Viele Jahre später erzählte mir jemand – es ist höchst seltsam und auch verwirrend dass ich mich nicht mehr erinnere, wer genau das war – das Folgende: Eines Tages ging eine Gruppe von Schülern in das Guru-Kutir und beklagte sich beim Meister: »Alle anderen (nicht verheirateten) Paare, die Sannyâsa genommen haben, mussten sich trennen, mit Ausnahme von Râmânanda und seiner Lebensgefährtin!« Das heißt, wir waren ein Ärgernis für sie. Und Shri Swamijis Reaktion? Eher harsch sagte Er zu ihnen: »Das ist meine Verantwortung.« Worte von Gott selbst, direkt aus dem Himmel kommend. Als ich dies so viele Jahre später hörte, verbeugte ich mich innerlich vor Ihm, aus tiefstem Respekt. Unvergleichlicher Meister! Ich sehe meine Lebensgefährtin als meinen zweiten Guru an. Ohne ihre unermüdliche Hilfe und liebende Fürsorge wäre ich heute nicht mehr am Leben.  Shri Swamiji wußte dies. Ich glaube, dass Er vom ersten Moment an gedacht hatte: »Dieser Kerl wird ohne seinen Schutzengel verloren sein.« Die folgenden dunklen Jahre (beginnend mit 1985) bewiesen, wie zutreffend dies war.]

In den nächsten Tagen zog auch meine Lebensgefährtin in Betracht, Sannyâsa zu nehmen, und als sie es dem Meister gegenüber erwähnte sagte Shri Swamiji zunächst: »Ja, du kannst es nehmen.« Da sie aber etwas unschlüssig war, hieß es am folgenden Tag: »Es ist besser, noch ein Jahr zu warten.«

Der Sannyâsa-Tag, Samstag, 29. August 1981, begann mit der ernsten Einweihung. Ich kann nicht sagen welche und wieviele Gedanken an frühere Leben und an diesen Tag als Höhepunkt der Entwicklung mir vorher durch den Kopf gingen. Und was mir im Guru-Kutir durch den Kopf ging, als ich das Gelübde sprach, als ich die Mönchskleider aus den Händen des Meisters empfing mit Seinen Worten: »Dein Name ist Swâmî Râmânanda.«

Gylling, Ende August 1981
Minuten nach der Einweihung, die Mönchskleider im Arm

Der Rest des Tages, vom Gruppenbild mit dem Meister bis abends zum Satsanga, war eine Freude. Meine Lebensgefährtin freute sich aufrichtig und war in hoher Stimmung; ich hatte den Eindruck dass sie froh war mich »gelandet« zu sehen.

Am Morgen danach fuhren wir zurück nach Karlsruhe, und schon eine Woche später für längere Zeit in einen wahrlich goldenen Herbst nach Blansingen, wo Shri Swamiji Seinen nächsten Aufenthalt hatte (8.–27. September).

Mit diesem weiteren Höhepunkt im N.U.Yoga-Âshrama Blansingen – es gab täglich vormittags persönlichen und täglich nachmittags öffentlichen Darshan mit dem Meister – ging langsam ein unvergessliches Jahr 1981 zu Ende.

Shrî Swâmîji in Blansingen, 1981
Im Hintergrund = Râmânanda
©N.U.Yoga Trust Gylling

In Karlsruhe richteten wir es so ein, dass jeden Donnerstag ein Meditationsabend mit Studiengruppe stattfand. Viele Menschen kamen, einige von ihnen fanden den Weg zu Shri Swamiji. Dieser offene Meditationsabend ging über viele Jahre und wurde erst mit dem Mahâsamâdhi des Meisters beendet (mahâsamâdhi =  wenn ein Jîvanmukta – »der zu Lebzeiten Befreite« – seinen Körper verlässt, um in das All-Eine einzugehen).

1982 nahm meine Lebensgefährtin wie geplant Sannyâsa.

So ging es weiter im persönlichen Kontakt mit Shri Swamiji in den Jahren 1982, 1983, 1984 sowohl in Gylling als auch in Blansingen, 1985, 1986, 1987 nur in Gylling. Danach waren wir jeden Sommer in Gylling bis zur Schließung des Camps, regelmäßig bei den jährlichen Treffen zu Shri Swamijis Geburtstag und zur Feier des Gurupûrnimâ (Vollmond im Juli, ein in Indien großer Gedenktag für alle Gurus), und die ganze Zeit monatlich bei den Satsangas in Blansingen und Burgberg (bei Kandern), die beiden deutschen Âshramas, bis heute.

Blansingen 1983
Aushang in Naturkostläden etc.

Einige Erinnerungen

1.
Alle persönlichen Darshans mit Shri Swamiji waren selbstverständlich außergewöhnliche Ereignisse. Im Angesicht Gottes – mehr muss nicht gesagt werden. Die meiste Zeit zeigte mir der Meister »Seine freundliche Gestalt« (saumya vapuh), wie es im 11. Gesang der Bhagavad-Gîtâ von Shrî Krishna heißt, ich war dann wie Arjuna »frei von Furcht, frohen Herzens« (vyapetabhîh prîtamanâh). Manchmal musste Er schimpfen, dann »erzitterte mein Innerstes« (pravyathita antarâtmâ). Ganz wenige Male wurde mir die Gnade des Dakshinâmûrti-Darshans zuteil. dakshinâmûrti = »nach Süden blickend«, ist ein Name des auf dem Mount Kailash residierenden Gottes Shiva. Er lehrt in tiefem Schweigen. Shrî Ramana Maharshi sagte: »Die höchste Form der Gnade ist Stille. Sie ist auch die höchste spirituelle Unterweisung. Wenn der Guru still ist, wird der Geist des Wahrheitssuchers von selbst gereinigt.« [Talks with Sri Ramana Maharshi, Talk 518]. In diesen seltenen Momenten, wenn ich das Guru-Kutir betrat, war sofort zu erkennen dass Shri Swamiji »nicht da war«. Der charakteristische, leicht nach oben seitlich gewendete Blick ins Unendliche – Er sah mich, so mein Eindruck, gar nicht kommen. Ich kniete zu seinen Füßen und konnte mein Glück nicht fassen: tiefster Frieden, der Hauch des Überweltlichen im Raum, unbeschreiblich. Nach einiger Zeit kam Er zurück, sah mich da sitzen, gab mir in Stille ein Prasâd und blickte wieder nach oben, während ich ging. Als ich draußen war, flüchtete ich ins Abseits, um mit niemandem reden zu müssen, blickte in den Himmel und nahm mir vor: »Diesen höchst intensiven Augenblick wirst du nie vergessen; und sollte die nächste Krise, der nächste Zweifel kommen, wirst du daran denken und damit alle negativen Gedanken aus dem Geist verbannen.« Dass dies nicht immer gelang, gehört zu den mir unbegreiflichen Dingen.

©N.U.Yoga Trust Gylling

2.
1982 kam Shri Swamiji im Mai statt wie sonst im Herbst nach Blansingen. Es waren im Mai nicht so viele Besucher da, und einmal ergab es sich sogar, dass nicht ein einziger »Fremder« im öffentlichen Darshan war, ausschließlich Schüler, größtenteils Mönche und Nonnen. Es gab an diesem Tag für Shri Swamiji wenig zu erklären, das Gespräch konzentrierte sich auf das Thema Kraft. Kraft durch Brahmacharya, Meditation, Askese, und man fühlte sich mit jedem Satz des Meisters höher getragen. Obwohl man Erleuchteten keine Emotionen unterstellen darf, hatte ich den Eindruck, dass Shri Swamiji selbst die ständig höhergehenden Schwingungen genoss. Am Ende ballte Er die Fäuste, hob die Arme halbhoch, schüttelte sie energisch und sagte mit durchdringender Stimme mehrmals: »Seid stark!« In diesem Augenblick war der Raum dermaßen mit Energie aufgeladen dass jede weitere Bemerkung aus unserer Richtung ein Sakrileg gewesen wäre. Und in diesem atemlosen Moment, der wie eine Ewigkeit schien, senkte der Meister die Arme und sagte lächelnd: »Es ist besser, jetzt aufzuhören!«

3.
Ein junger Mann war in Blansingen und übernachtete im gemeinsamen Schlafraum, wo er uns etwas von seiner Yogakunst zeigte. Er war wirklich ein perfekter Hatha-Yogi. Schnell aber wurde aus unserer Bewunderung Zurückhaltung, weil seine Demonstration und sein überlegenes Lächeln darauf hinwiesen dass sein Ego so groß war wie seine Kunst. Auch seine Meditation war mehr ein Zurschaustellen. Im öffentlichen Darshan wollte er von Shri Swamiji wissen, ob er die Jnâna-Mudrâ korrekt ausführen würde. Der volle Lotussitz (Shri Swamiji: »Ja«), die Hand-Mudrâ (»Ja«), aufrechte Haltung – ein Bild der Perfektion. »Und dies ist die Geste der Weisheit?«, fragte der Besucher. Shri Swamiji: »Ja.« Nach einigen Sekunden der Stille bemerkte der Meister in einzigartiger Trockenheit: »Jetzt bist du ein weiser Mann.« Wir brachen in Lachen aus. Ich hatte nicht den Eindruck, dass der junge Yogi Shri Swamijis Unterweisung verstanden hatte; er kam jedenfalls nie wieder.

4.
Blansingen, öffentlicher Darshan. Nachdem es eine halbe Stunde lang um die üblichen hohen Themen wie Kundalini Shakti und Nirvikalpa-Samadhi ging, unterbrach eine Besucherin den Fluss mit der offenkundig abwertenden Bemerkung: »Nach all diesen viel zu theoretischen Dingen möchte ich eine praktische Frage stellen. Was hält der Meister davon, wenn ich in (…) eine Wohngemeinschaft gründe um dort mit den Leuten in ökologischer und spiritueller Weise ein sinnvolles Leben zu verbringen?« Shri Swamiji antwortete: »Ich halte gar nichts davon, daß du dich dort als Guru aufspielen wirst.« Die Frau schwieg betreten; im Raum war größte Stille, als die abschließende Frage des Meisters kam: »War das praktisch genug?«

5.
Blansingen, öffentlicher Darshan. Alle saßen bereits im Raum und warteten auf Shri Swamiji, der jeden Augenblick erscheinen musste, da kam in letzter Minute noch ein Besucher und setzte sich auf einen Stuhl an der Wand. Ein Anhänger von Rajneesh (der sogenannte »Bhagwan«), wie man an der roten Tracht und der umgehängten Mâlâ (Rosenkranz) mit dem Bild erkennen konnte. Kaum saß er, erschien Shri Swamiji. Der Meister nahm auf dem erhöhten Âsana Platz, schaute wie immer rundherum, flüsterte »beginnt« und schloss die Augen. Nach der Rezitation des pûrnam adah-mantra sagte Er dann nicht wie gewohnt »Gibt es heute Fragen?«, sondern sprach sofort von sich aus über Brahmacharya. Ich war erstaunt, denn niemand hatte etwas gefragt; auch hatte dies keinen Zusammenhang mit dem Darshan am Tage vorher. Nach wenigen Sätzen, als Shri Swamiji betonte »Es gibt keinerlei spirituellen Fortschritt ohne strikte Einhaltung des Brahmacharya« und dabei den »roten Besucher« anschaute, erhob sich dieser sichtlich gereizt und ging wort- und grußlos schnell aus dem Raum. Dadurch entstand kurz Unruhe unter den anderen Besuchern. Kaum war der Rajneesh-Anhänger verschwunden, sagte Shri Swamiji: »Jetzt können wir beginnen.« Alle verstanden und lachten befreit.

6.
Ein Gurubhai (Gurubhais sind »Schüler desselben Meisters«, also spirituelle Brüder/Schwestern) bat mich, mit ihr eine Freundin zu besuchen. Diese spirituelle Dame litt unter Krebs im Endstadium und hatte von Shri Swamiji gehört. Wir fuhren also gegen Mittag zu ihr. Es ging ihr sehr schlecht, aber sie war beherrscht und freute sich über den Besuch. Von der ersten Sekunde an war Shri Swamiji der Mittelpunkt unseres Gesprächs. Nach einiger Zeit, in der Schwingungen immer höher gingen äußerte die Dame den Herzenswunsch, Shri Swamijis Schülerin zu werden. Ich hätte am liebsten gesagt: »Steigen wir ins Auto, ich fahre Sie sofort nach Gylling, das dauert 12 Stunden.« Aber ihre Freundin hatte mir klargemacht dass dies ausgeschlossen sei, die Dame würde die Strapazen der Reise nicht überleben. Erneut hätte ich am liebsten gesagt, »Was macht das schon, wenn man dafür den Meister gesehen und mit Ihm gesprochen hat!« Aus Angst vor der Verantwortung schwieg ich. Und hoffte dass ihr Wunsch, wie auch immer, in Erfüllung gehen möge. Wir redeten dann weiter, wechselten von Shri Swamiji zur Bhagavad-Gîtâ und zurück zu Shri Swamiji, ein harmonisches, erhebendes Gespräch. Plötzlich, mitten in einem Satz, zuckte die Dame zusammen, sah nach oben, sagte: »Der Meister hat mich gerade eingeweiht, ich bin jetzt Seine Schülerin!« Und brach in Tränen aus. In der darauf herrschenden Stille kamen mir zwei Gedanken: 1. Shri Swamiji war wirklich da. 2. Sollte das ihrer Fantasie entsprungen sein, war es auch positiv, denn sie war wirklich ergriffen und erfüllt. Einige Zeit später verließen wir sie. Beim nächsten Besuch sagte sie mit gleicher Inbrunst, sie wünschte sich nichts mehr als noch Sannyâsa aus der Hand Shri Swamijis zu nehmen. Gleiche Bemerkung wie vorhin, sie war nicht reisefähig … Wenige Tage darauf war ich in Gylling im Yoga-Camp. Ich hielt es für meine Pflicht, wegen ihres Wunsches den Meister zu fragen. Das war dann auch für mich eine Gnade, denn kaum hatte ich die Worte gesprochen: »Diese Dame …« reagierte Shri Swamiji liebevoll mit »ja«, es war klar, dass Er wusste wen ich meinte, und blitzartig schoß mir durch Kopf: »O mein Gott, Shri Swamiji war an jenem Nachmittag tatsächlich in der Wohnung und hat die Frau eingeweiht!« Das steht bis heute für mich fest. Ich musste nach diesem himmlischen Schock weiterreden, denn der Meister wartete: »… sie wünscht sich, Deine Sannyâsinî zu werden.« Shri Swamiji schaute traurig in den Raum und dann zu mir, sagte in einer Mischung aus großer Zuneigung und Bedauern: »Es ist nicht möglich …«, und ohne dass Er es sagen musste war zu verstehen: »Sie kann nicht hierherkommen.« Ich war sehr bewegt und auch froh, meine Pflicht getan zu haben. Kurz darauf verstarb die Dame. Meine Gedanken waren dann: Jetzt ist Shri Swamiji bei ihr und begleitet sie zu ihrer nächsten Geburt …

7.
Gylling, öffentlicher Darshan. Jemand fragte: »Swamiji, was ist der Dharma (dharma = das zu Tuende, die Pflicht) einer Kuh?« Shri Swamiji antwortete zunächst: »Gras zu fressen und so viel Milch wie möglich zu geben.« Inmitten der allgemeinen Erheiterung fuhr Er jedoch gleich fort: »Es ist nicht so. Sie haben eine eigene Existenz.« Mit diesen tiefgründigen, mitfühlenden Worten war der nötige Ernst wieder da. In einem der folgenden Darshans deutete ein Besucher an, dass Tiere niedrigere Wesen seien, der Mensch dürfe deshalb über sie verfügen. Der Meister antwortete sarkastisch, aber voller Empathie: »Ja, ja, und die Tiere haben einen eigenen Gott, und dieser Gott weint Tag und Nacht angesichts ihrer Leiden!« Diese Bemerkung ging mir durch Mark und Bein.

8.
Gylling, öffentlicher Darshan. Zeitreisen sind auch unter Yoga-Anhängern nicht selten ein Thema. Ein attraktiver Gedanke, man denke an den faszinierenden Film Die Zeitmaschine. Angesichts der Tatsache dass sich sogar Wissenschaftler mit der Idee anfreunden können fand ich es erstaunlich und befreiend, dass der Meister mit einem einzigen Satz das Thema vom Tisch fegte. Jemand fragte: »Swamiji, ist es möglich, durch die Zeit zurück in die Vergangenheit zu reisen?« Shri Swamiji sah ihn an: »Kannst du wieder ein Baby werden?« Der Schüler verstand nicht sofort, und der Meister wiederholte Seine Frage. Dann war Stille im Raum, bis die nächste Frage zu etwas anderem kam. Warum kam ich nicht selber auf die Idee, dass ein Zeitreisender sich selbst ja nicht außerhalb der Zeit stellen kann? Worüber Menschen in vollem Ernst reden können, das führt ein Meister in zwei Sekunden ad absurdum.

9.
Gylling, Yoga-Camp. Jemand lieh mir ein Buch mit dem Hinweis, die Lektüre würde sich lohnen. Die Biographie eines Heiligen; an den Titel erinnere ich mich nicht mehr. Unter anderem war die Rede davon, dass dieser Heilige Yogis im Himâlaya traf, die mehrere hundert Jahre alt waren. Der Gedanke zog mich an: Jahrhundertealte Yogis mit übernatürlichen Kräften, in den Höhlen des Himâlaya lebend … Gleichzeitig waren Zweifel in meinem Kopf. Da ich nicht den Mut hatte im öffentlichen Darshan danach zu fragen, nutzte ich die Gelegenheit im nächsten privaten Darshan: »Man spricht von Yogis im Himâlaya, die mehrere hundert Jahre alt sind.« Shri Swamiji: »Und?« Ich: »Das sind doch nur Märchen, oder?« Shri Swamiji: »Nein, es ist eine Tatsache.« Ich war sprachlos. Und in die folgende Stille hinein sagte der Meister: »Wenn man aber zwischen Leben und Tod keinen Unterschied mehr sieht, wozu will man den Körper so lange am Leben erhalten?«

10.
Obwohl der Meister betonte, dass Zweifel zu den größten Feinden des Sadhaka (sâdhaka = geistig Übender) gehören, war in schlechten Zeiten so manches Mal – und offensichtlich nicht nur bei mir – die Frage übermächtig: Hat mein Meister den Nirvikalpa-Samâdhi erreicht? Zweifel, die schnell wieder verschwanden, entweder durch Shri Swamijis Worte oder durch gewisse Begebenheiten. Eine davon aus Blansingen: Im öffentlichen Darshan war einmal von den indischen Asketen die Rede, und dabei kam Shrî Svâmîji von sich aus, ohne dass es eine Frage dazu gegeben hätte, auf die Avadhutas zu sprechen (avadhûta = »der alles abgeworfen hat, über die Dualität hinausgegangen ist«; sie gehören zu den am meisten verehrten Heiligen). Da niemand von uns genau wusste, was Er meinte, gab der Meister einige Erklärungen. Und obwohl zu sehen war, dass Er mit Sympathie von den Avadhutas sprach, sagte Er am Ende lächelnd: »Aber sie können den Samadhi nicht erreichen!« Als der Meister unsere erstaunten und fragenden Gesichter sah, schob er einige erklärende Sätze nach. Mir ging durch den Kopf: Die Selbstverständlichkeit, mit der Shri Swamiji dies gesagt hat, konnte nur bedeuten, dass Er den Nirvikalpa-Samadhi erreicht hat, hier wusste jemand genau, wovon er redet. Begebenheiten solcher Art durfte ich mehrere erleben.

11.
Zum Thema Zweifel hörte ich den Meister in mehreren öffentlichen Darshans in Blansingen sagen: »Missversteht es nicht, denn dies wäre ein großes Unglück.« Der Anlaß für diesen karmisch extrem wichtigen, in die tiefsten Tiefen gehenden Satz: Shri Swamiji erklärte einige technische Details wie die Stufen des Râja-Yoga, oder die Ebenen der Chakras usw., und dabei war es so, dass Er zum Erstaunen vieler einiges leicht durcheinanderbrachte. Da sich niemand traute sofort nachzufragen, war nach den Darshans der Gedanke förmlich zu greifen: Wie kann das einem Erleuchteten passieren? Die Lösung folgte sofort am nächsten Tag. Bevor jemand zu Beginn eine Frage stellen konnte, kam Shri Swamiji von sich aus auf die Sache zu sprechen. Mit der Zusammenfassung, dass solch theoretische, für die Praxis belanglose Dinge keinen Platz mehr in Seinem Geist hätten: »Ich habe all diese Dinge vergessen.« Und mit der abschließenden Bemerkung: »So, missversteht es nicht, denn dies wäre ein großes Unglück.« Der Meister sagte dies einerseits lächelnd, äußerst liebevoll, aber im Raum stand gleichzeitig eine ernste Warnung: Sich durch Zweifel solcher Art vom Weg, vom Meister abbringen zu lassen wäre ein großes Unglück! Eines dieser herrlichen Sekundenphänomene, an die ich immer wieder denken muss.

12.
Gylling, nach 1987 (ich erinnere mich nicht mehr genau, es war jedenfalls nach dem Mahâsamâdhi des Meisters). Ich hatte oft von Pilgerfahrten zum Berg Kailash gelesen, der Stätte von Shiva Dakshinâmûrti, und verspürte oft den Wunsch, selbst dort zu sein. In einem Camp-Jahr war das Verlangen stärker als zuvor, so daß mein Entschluss reifte, die Theorie in die Praxis umzusetzen. Eines Morgens ging ich zum Pranâm (Verbeugung) in das Guru-Kutir, und ständig war in meinem Geist der Gedanke an den Kailash. Nach dem Pranâm ging ich in Frieden hinaus und einige Schritte auf das Mantra-Kutir (kleiner Tempel) zu. Als ich auf die Spitze des Daches blickte, sagte eine innere Stimme: »Dein Kailash steht hier, es ist das Mantra-Kutir!« In diesem Moment erschien vor meinen Augen ein riesiger Shiva auf dem Dach, der mir huldvoll zulächelte. Mir ging es durch Mark und Bein, ein noch tieferer Frieden erfüllte mich. Als ich mich verbeugte und »Ja!« sagte, verschwand Lord Shiva, und ich machte mich auf die Umkreisung (pradakshina) »meines Kailash«, ging um das Mantra-Kutir herum. Von diesem Tag an habe ich niemals wieder von einer Pilgerfahrt nach Tibet geträumt.

Shiva-abhayamudrâ
Segnender Shiva


Südseite des Mount Kailash
Sanskrit: Kailâsa Parvata
Tibetisch: »kostbares Schneejuwel«

13.
Gylling, Sannyâsa-Day. Wir warteten nachmittags vor der Meditationshalle darauf, dass Shri Swamiji vom Guru-Kutir heraustrat für den letzten Satsanga während der Camp-Zeit. Ich stand an der Ecke zwischen Meditationshalle und Guru-Kutir, nahe an dem mit Blumen geschmückten Eingangsgitter. Endlich ging die Tür auf, Shri Swamiji erschien. Es waren nur 20 Meter bis zum Eingang in die Meditationshalle. Ich schaute gebannt auf jeden Schritt, den der Meister machte – majestätisch, in tiefstem Frieden, kaum der Umgebung bewusst. Als Er mir ganz nahe war und ich mich verbeugte, sagte eine Stimme in mir: »Hier kommt der König der Könige!« Drei intensivste Sekunden, deren Erinnerung mir über so manche dunkle Zeiten hinweggeholfen hat.

©N.U.Yoga Trust Gylling

14.
Der Meister wurde öfter gefragt: »Swamiji, Du hast so viel für uns getan, was können wir für Dich tun?« Der Meister lächelte und gab jedesmal (zumindest wenn ich zugegen war) dieselbe Antwort: »Werdet nicht verrückt.« Nicht nur stieg mein Respekt für den Meister ins Unermessliche angesichts Seines himmelhohen Verantwortungsbewusstseins; ich habe in den öffentlichen Darshans dieses »werdet nicht verrückt« so oft gehört dass mir klar wurde: Das ist eine besonders wichtige Botschaft! Das Leben vieler Schüler – mich eingeschlossen – hat bewiesen, wie recht der Meister damit hatte. Wir lesen in der Katha-Upanishad (I.3.14) die unsterblichen Worte: »uttisthata jâgrata … Erhebe dich, erwache! Erlangt habend die Gnade der Besten, sei wachsam! Schwer zu gehen ist auf des Messers Schneide, (ebenso schwer ist) der unwegsame Pfad (des Yoga), sagen die Weisen.« Viele Sâdhakas können diese Tatsache bezeugen.

15.
Blansingen. Ein Besucher, der in der Bibliothek einige Zeit in den Büchern des Meisters gelesen hatte, richtete sich im öffentlichen Darshan an Shri Swamiji. Seine Feststellung war keine Kritik, vielmehr die sanfte, leicht klagende Frage eines Interessierten: Er fände die Methode von Shri Swamiji – mit Kundalinî, Brahmacharya, Mantra-Japa, Meditation, Prânâyâma, Beherrschung des Geistes – sehr kompliziert. Shri Swamijis Antwort war nicht nur an ihn gerichtet, auch ich habe enorm davon profitiert: »Ich habe es für euch so einfach wie möglich gemacht.« Wie oft habe ich an diesen liebevollen Satz denken müssen.

16.
Es war sozusagen offiziell dass Shri Swamiji mit allem »Alten« aus der indischen Yoga-Welt gebrochen hatte (»Ich habe mit diesen Dingen nichts zu tun«). Dazu gehörte auch, dass Er Sanskritbegriffe nur verwendete wo es nicht anders ging; für den Rest machte Er klar: überflüssige Dinge, das Gewicht liegt einzig auf der Praxis. Ich hatte dennoch den Eindruck dass dies nicht ganz stimmte. Shri Swamiji zitierte häufig aus den Schriften. Er sprach auch ein korrektes Sanskrit, weswegen ich nicht verstehen konnte, dass Er bei uns nicht auf eine korrekte Aussprache drängte. Wie etwa beim »dänisch-deutschen« pûrnam adah-mantra, wo ich mich des Eindrucks nie erwehren konnte dass Inder sich dabei am liebsten die Ohren zuhalten würden. Mir wurde zu verstehen gegeben dass der Meister auf derlei Äußerlichkeiten keinen Wert legte. Ich musste zugeben: anscheinend in der Tat nicht. Andererseits erlebte ich ein Sekundenphänomen in einem öffentlichen Darshan. Jemand las aus einem der Bücher von Swami Narayanananda den Satz vor: »Die intellektuelle Funktion des Geistes wird Buddi genannt.«. Sofort unterbrach Shri Swamiji: »Budd-hi«. Der Leser hielt inne und schaute auf den Meister; dieser erwiderte den Blick und sagte nach einer Sekunde: »Es ist in Ordnung.« Das klang verständnisvoll, mitfühlend – und in meinen Ohren auch resignierend. Ich habe diese wenigen Sekunden »genossen«, in dem Sinne, dass Shri Swamiji trotz allem eine korrekte Aussprache des Sanskrit bevorzugt hätte.

17.
Zur Bhagavad-Gîtâ: Einerseits gehörte sie zu den »alten« Dingen, von denen der Meister sich getrennt hatte; legte man zuviel Betonung auf die Gîtâ, reagierte Er nicht selten ablehnend. Andererseits zitierte Er sie relativ häufig. Königlich war Shri Swamijis Zusammenfassung: »Was ist die Essenz der Bhagavad Gîtâ? Denke immer an Mich, und kämpfe!« Angesichts des höchst schwierigen Themas Karma (Shrî Krishna nennt es »undurchdringlich«) gibt es auf dem spirituellen Weg keinen wichtigeren und praktischeren Satz als diesen (VIII.7): sarveshu kâleshu (zu allen Zeiten) mâm (an Mich) anusmara (denke) yudhya cha (und kämpfe).

»Denke immer an Mich, und kämpfe!«

18.
Gylling, öffentlicher Darshan. Schwerpunkt an diesem Nachmittag war Brahmacharya (Enthaltsamkeit). In der Hitze der Diskussion ermunterte uns der Meister, zum Thema deutlicher zu werden und ohne Hemmungen in die Details zu gehen. Dies nutzten einige tatsächlich, und am Ende waren die Details dermaßen detailliert dass eine ungute Schwingung im Raum stand; es war einfach zuviel. Ich schaute gebannt auf den Meister, und auch das nächste Sekundenphänomen wird mir unvergesslich bleiben. Auf dem Höhepunkt der Diskussion blickte Shri Swamiji zu Boden, Er erschien mir wie ein göttliches Kind, und aus Seinem Mund kam der Satz: »Ich vermag mir solche Dinge nicht einmal vorzustellen.« Große Betroffenheit bei allen (wie ich empfand), totale Stille, Themenwechsel. Das ist der Unterschied zwischen Mensch und Gott, der Normalsterbliche kann sich nicht vorstellen dass ein höheres Wesen sich so etwas nicht vorstellen kann! Ich dachte an die Weisheitsperle aus der Bhagavad-Gîtâ (II.69): »Was Nacht ist für alle Wesen, darin wacht der Selbstbeherrschte. Worin die Wesen wachen, das ist Nacht für den sehenden Muni.«

19.
Es ist meine Überzeugung, dass es den öffentlichen Meister und den persönlichen Meister gibt. Der erste ist jener, dessen Aussagen in den Büchern und in den öffentlichen Darshans von allen Lesern und Hörern einheitlich verstanden werden müssen. Der Meister im persönlichen Darshan sagte dann auch Dinge, die nur für den Betroffenen gelten. Es berührte selbstverständlich nicht den Kern der Lehre, vielmehr die praktischen Dinge des Alltags. Die an dieser Stelle anzuführenden Beispiele wären zahllos, jeder Swamiji-Schüler kennt das aus eigener Erfahrung; Beispiele für die Strenge des Meisters auf der einen, für Seine Liebe und Milde zum Einzelnen auf der anderen Seite. An dieser Stelle genügt eine eher banale, mir lieb im Gedächtnis verbliebene Begebenheit. Ich hatte 1974 meine Ernährung umgestellt und viele Experimente durchgeführt. Als ich Shri Swamiji zum ersten Mal traf, befand ich mich in einer Rohkostphase, und groß war meine Verwunderung, als in den Studiengruppen gesagt wurde, dass der Meister überhaupt nichts davon hielt. Spontan erschien es mir unglaubwürdig, aber dann hörte ich selber im öffentlichen Darshan: In der Tat, der Meister riet davon ab und erheiterte sich sogar darüber anhand des Beispiels eines Schülers. Dieser Schüler war ein Vitaminfanatiker und dachte, er müsse deswegen alle Sorten von Gemüserohkost zu sich nehmen. Nach einiger Zeit ging es ihm mit seiner Diät sehr schlecht, und er bat den Meister um Hilfe. Shri Swamiji schrieb ihm: »Sende mir eine Liste mit all den Gemüsen, die du isst!« Es war eine sehr lange Liste mit allen Arten von Gemüsen. Shri Swamiji fuhr fort: »Ich sendete ihm die Liste zurück, auf der ich alle Gemüse bis auf ein einziges gestrichen hatte.« Alle fanden das sehr lustig, ich dagegen war irritiert, denn mir ging es damals blendend, so gut wie noch nie. Also sprach ich Shri Swamiji im privaten Darshan darauf an. Es war offensichtlich dass ich die Rohkost bestens vertrug. Statt wie erwartet eine Absage zu kriegen ermunterte mich der Meister: »Ja, fahre damit fort, es tut dir gut.« Ich bedaure bis heute dass ich meinen guten Zustand von damals nicht verlängern konnte und später die Essdisziplin völlig aufgab, aber prinzipiell glaube ich, den Meister verstanden zu haben.

20.
Unvergesslich wird auch ein Satz des Meisters in einem öffentlichen Darshan in Gylling bleiben. Es ging um das Thema Töten; ich glaube mich zu erinnern dass es in Verbindung mit der Bhagavad-Gita war. Bekanntlich wird Arjuna aufgefordert zu kämpfen, »töte alle diese Krieger« (XI.34), allerdings »frei von Selbstsucht« (III.30), »so wirst du keine Schuld auf dich laden« (II.38). Auch in dieser Diskussion gingen die Schwingungen immer höher, aber irgendwann wurde es Shri Swamiji zu theoretisch, und mit einem total ernüchternden Satz holte er uns zurück auf den Boden der Realität: »Ihr könnt nicht einmal einen Moskito ohne Emotionen töten!« Allein an diesen Satz musste ich in den nächsten Jahren bestimmt tausendmal denken.

21.
Ein wunderbares Phänomen, welches ich mir unmöglich eingebildet haben kann (dafür geschah es zu oft) waren Shri Swamijis wechselnde Farben Seines Gesichtes. Dies hing – ich verstehe das so – mit den »Stimmungen« des Meisters zusammen und geschah größtenteils in den öffentlichen Darshans. Innerhalb von Sekunden konnte Shri Swamijis Gesicht anders aussehen, von hell nach dunkel in verschiedenen Farbabstufungen, und als das beeindruckendste, ehrfurchtgebietendste Phänomen betrachtete ich das »Krishna-Gesicht«. Shrî Krishna wird in blauer Farbe dargestellt, aber es handelt sich genauer um eine Mischung aus blau und grau. Wie es in den Schriften heißt, ist es die Farbe einer blaugrauen (shyâma), regenverhangenen Wolke (megha), schwer zu beschreiben. Einmal sah ich in den Bergen die Entsprechung: Es war früher Abend, der Himmel zartblau mit leichtem Purpur der untergegangenen Sonne, gleichzeitig waren Wolken am Himmel in zartestem graublau. Spontan kam mir Shrî Krishna in den Sinn, ein intimer, transzendenter Augenblick. Als ich dieses Phänomen bei Swami Narayanananda erleben durfte wurde mir klar, dass in den »Märchen« der Mythologie viel Wahrheit enthalten ist.

nîla-megha-shyâma
blaugrau wie eine Regenwolke

22.
Während des gemeinsamen Darshans eines Nachmittags im deutschen Ashram (an das Jahr kann ich mich nicht mehr erinnern) war detailliert die Rede von Dhâranâ (Konzentration) mit dem für den traditionellen Yoga charakteristischen Stichwort »Sekunden«. Dass es hier in der Tat große Missverständnisse gibt zeigt das Beispiel einer fremden Besucherin des besagten gemeinsamen Darshans an jenem Nachmittag. Als sie sich die Diskussion einige Zeit lang angehört hatte konnte sie sich nicht beherrschen – sie hätte ja den Meister am nächsten Tag im privaten Gespräch danach fragen können – und sagte vor allen Anwesenden auffallend ungehalten, dass sie für diese »Sekundenzählerei« aufgrund eigener Erfahrungen keinerlei Verständnis habe etc. Shri Swamiji ließ daraufhin durch den Dolmetscher fragen, wie lange sie sich denn konzentrieren bzw. die Meditation halten könne. Die Dame erwiderte ohne zu zögern: Mindestens 10 Minuten lang. Daraufhin wandte sich der Meister erneut an den Dolmetscher und ließ Seine Worte übermitteln: »Wenn sie das wirklich könnte, würde sie mit Leichtigkeit in den Nirvikalpa-Samadhi eintauchen«. Eine klassische Situation: Ein Meister gibt einem Besucher kritisch und dennoch liebevoll einen enorm wichtigen Hinweis für den Fortschritt auf dem spirituellen Weg. Und was macht der Besucher daraus? Er fühlt sich in seinem Ego angegriffen, geht, und kommt nie wieder ...

23.
Dass ein Samâdhi-Mensch »die Beherrschung der Elemente« erreicht hat, dies sagt Shrî Patanjali im Yoga-Sûtra (III.44). Ich las dies auch in weiteren alten Yogaschriften, unter anderem dass eben auch das Wetter den Erleuchteten »folgt«. Es mag Zufall sein, aber ich hatte mehrere Male die Gelegenheit (und die Gnade) dies erleben zu dürfen. Dänemark ist ein meteorologisch äußerst dynamisches Land, und häufig war an den Tagen des wöchentlichen Satsangas der Himmel verdunkelt und es regnete. Bis zu dem Augenblick, als der Meister sich anschickte, den Guru-Kutir zu verlassen, um in die Meditationshalle zu gehen, wo die Versammlungen stattfanden. Da brach die Wolkendecke auf, die Sonne strahlte aus einem blauen Streifen am Himmel. Das gleiche Phänomen nach dem Satsanga (während dem es übrigens wieder regnete). Wir standen draußen mit den Regenschirmen und warteten, dass der Meister als Letzter die Meditationshalle verließ. Ein älterer Schüler sagte damals zu mir: »Du wirst sehen, gleich hört es auf zu regnen.« Ich hielt das beim ersten Male für einen Scherz, aber tatsächlich: Wieder brach die Wolkendecke auf, wieder strahlte kurz die Sonne, und als der Meister in das Guru-Kutir ging und sich die Tür schloss, zogen sich die Wolken zusammen und es fing wieder an zu regnen. In diesem Sinne erschien es beinahe als selbstverständlich, dass anlässlich der Feierlichkeiten sowohl an Gurupûrnimâ als auch am Sannyâsa-Day das schönste Wetter war ...

»Erhebt euch jetzt über all diese dummen Dinge!«

«Rise up now above all these stupid things!» Mehr als einmal war dieser bedeutungsschwere Satz von Shri Swamiji in den allgemeinen Darshans zu hören. Auch dabei war es für mich wichtig, auf das Gesicht des Meisters zu schauen, genauer: zu erkennen, in welcher Stimmung Er diese Worte von sich gab. Wenn die Fragen zu vorwiegend weltlichen Problemen (Weltanschauungen, Politik, Soziales etc.) zu stark den Raum füllten – saßen wir nicht zu Füßen eines Erleuchteten, um über die wahre Wirklichkeit, um über den göttlichen Sanâtana-Dharma (»ewige Lehre«) zu hören? – dann verkürzte und beendete Er die Diskussionen in einer Mischung aus Unverständnis (über unseren Starrsinn) und Angewidert-Sein (von allem Weltlichen) mit den Worten: »Erhebt euch jetzt über all diese dummen Dinge!« Ich habe diese donnernde Aussage in einem auf Video aufgezeichneten Gespräch erfahren, meine mich aber zu erinnern, sie vor fast vierzig Jahren auch in Seiner Gegenwart gehört zu haben, und seitdem schwingt sie ständig in meinem Geist. Selbst wenn ich im Alltag nicht immer fähig bin, sie in die Praxis umzusetzen, so sind sie dennoch unzerstörbar ein Teil meiner besseren, meiner Yoga-Natur geworden.

»Das größte Unglück des Lebens«

«The greatest calamity of life» – Am Sannyâsa Day, dem Tag der Mönchsweihe, und auch anlässlich des Gurupûrnimâ (Vollmond im Juli, ein in ganz Indien gefeierter Tag zu Ehren aller Gurus) pflegte Shri Swamiji häufig die wundervolle Geschichte vom Löwen zu erzählen der sich für ein Schaf hielt und von einem anderen Löwen zur Selbsterkenntnis gebracht wurde. Die Originalgeschichte findet sich in dem Buch Sayings of Sri Ramakrishna unter der Nummer 1111 (Sri Ramakrishna Math, Madras), wobei dort von zwei Tigern die Rede ist, während Shri Swamiji von zwei Löwen spricht.

»Eine trächtige Löwin traf einst auf eine Schafherde und griff ein Tier an. Doch die Anstrengung war zuviel, sie verlor ihr Junges und starb. Der gute Hirte nahm das Kleine an und zog es als Teil seiner Herde auf. Dem Beispiel der anderen Schafe folgend fraß es Gras und blökte. Im Laufe der Zeit wurde ein ausgewachsener Löwe aus ihm, der sich nach wie vor für ein Schaf hielt. Eines Tages tauchte ein anderer Löwe aus dem Dschungel auf, um die Herde anzugreifen. Zu seinem Erstaunen erblickte er den Löwen, der sich wie ein Schaf benahm. Er jagte ihn, und als er ihn beim Genick packte, begann der Schaflöwe ängstlich zu blöken. Der Dschungellöwe sagte ihm dass er kein Schaf, sondern ein Löwe wie er selbst sei. Aber der Schaflöwe wollte es nicht glauben. Der Dschungellöwe zerrte nun den Schaflöwen zu einem nahe gelegenen Teich und forderte ihn auf ins Wasser zu schauen, zeigte ihm auf diese Weise das Spiegelbild zweier Löwen und sprach: »Sieh, du bist ein Löwe, genauso wie ich selbst.« Der immer noch verängstigte Schaflöwe schaute ins Wasser und erkannte sofort die Wahrheit. Er lernte dann, wie man brüllt, sich frei im Wald bewegt, Fleisch isst, usw. So verstand der pflanzenfressende Löwe seine wahre Natur und streifte danach als König des Dschungels frei und furchtlos umher. Auf dieselbe Art und Weise gibt es keine Furcht mehr, wenn man die Gnade des Gurus hat. Der Guru wird dir die Augen öffnen und dir sagen, wer du bist und was dein wahres Selbst ist. Du hast deine eigene wahre Natur völlig vergessen, indem du dich ständig mit dem vergänglichen Körper und den vergehenden Sinnenfreuden identifizierst. Du bist das Selbst, das immer rein und frei ist!«

Ich habe dieses Gleichnis mehrere Male mit eigenen Ohren gehört. Was den donnernden Satz »the greatest calamity of life« betrifft glaube ich mich erinnern zu können, ebenfalls live dabeigewesen zu sein, habe ihn aber auf jeden Fall in den Video-Darshans zu hören bekommen.

Nach Seiner Erzählung fuhr der Meister also fort: »Wenn man die seltene Geburt als Mensch erreicht hat, weiter dann mit einem gesunden Körper und einem funktionierenden Intellekt, und wenn man auch noch die Gnade der rechten Führung durch einen wahren Guru erlangt hat und dann nicht alles daran setzt, Erlösung und Freiheit (Moksha) zu erreichen, wird sich dies als das größte Ungück des Lebens erweisen.«

Wobei man das englische calamity übersetzen kann mit Unglück, Unheil, Katastrophe, Desaster, Tragödie.

Persönlich hat mich dieser Satz beim Überdenken meines Lebens in größten Stress gebracht – und ich war nicht der einzige dem es so ging, das weiß ich aus Gesprächen! Beinahe schockierend war dabei die Schwingung, in der Shri Swamiji es sagte. Nämlich ohne die geringste Spur von Aufdringlichkeit, von Druck, von Predigt und Ähnlichem, vielmehr in größter Ruhe, Abgeklärtheit und Unberührtheit, wie aus einer anderen Welt. Der Erleuchtete ist jenseits von Gut und Böse, er äußert einfach kompromisslos die Wahrheit. Ob der Schüler dies akzeptiert oder ablehnt, damit hat Er dann nichts mehr zu tun.

»Die seltene Geburt als Mensch, eine günstige Umgebung, die geheiligten Füße des Gurus, der rechte Pfad, die rechte Führung, ein klarer Intellekt und aufrichtiges Bemühen – was willst du noch, mein Kind? Was fürchtest du, mein Liebes? Erhebe deinen Geist hoch, höher als die höchsten schneebedeckten Berge. Mache deinen Charakter stark und fest wie den Himâlaya. Tauche tief, tief bis auf den Grund des Ozeans von Sat-Chit-Ânanda (Sein, Bewusstsein, Seligkeit) und sei für immer frei.«

»Ich bin überall ein Fremder.«

«I am a stranger everywhere.» – Blansingen, öffentlicher Darshan (vermutlich 1984, genau kann ich mich nicht mehr erinnern). Ein großer Augenblick, in dem durch einen einzigen Satz von Shri Swamiji das Überweltliche den Raum füllte. Es waren an jenem Tag ungewöhnlich viele Ashramiten anwesend (auch aus Skandinavien), und fast zwangsläufig kam die Rede auf das Thema Âshram. Eine Zeit lang beteiligte sich der Meister am Gespräch, betreffend den Sinn und die Wichtigkeit von Âshramas. Irgendwann aber lief die Unterhaltung auf ein gewisses elitäres Denken zu, in meinem Verständnis ging das in Richtung »Ashramiten sind besondere Schüler« und Ähnliches, und schließlich fiel der Satz »die Âshramas von Swami Narayanananda«. Beim Hören dieser Worte verfinsterte sich die Miene des Meisters, Er unterbrach harsch, es wehte kurz ein eisiger Hauch: »Was habe ich mit euren Âshramas zu tun?« Und in der folgenden Totenstille hörten wir die Worte von Shri Swamiji: »Ich bin überall ein Fremder.«

Diese wundervollen Worte kamen für mich direkt »aus dem Jenseits«, ich musste an die Aussage von Bhagavân Shrî Ramana Maharshi über Gott denken:

»Man kann dieser Kraft keinen Beweggrund unterstellen. Dem einen, unendlichen, allwissenden und allmächtigen Sein kann kein Wollen und kein zielgerichtetes Handeln zugeschrieben werden. Gott bleibt unberührt von den Handlungen, die in Seiner Gegenwart geschehen. Vergleiche die Sonne und das Geschehen in der Welt. Es hat keinen Sinn, dem All-Einen Verantwortung und Motive zu unterstellen …«

Das gleiche lesen wir von Shri Swamiji selbst, siehe Seine Beschreibung des Jîvan-Mukta in A Practical Guide to Samadhi. Bei dieser Beschreibung nimmt Shri Swamiji auch Bezug zur wunderbaren Schilderung des Jîvan-Mukta in der Bhagavad-Gîtâ (zweiter Gesang, ab Vers 54). Ich habe in einer Studiengruppe in Gylling die Aussage des Meisters »Ich bin überall ein Fremder« in eine Diskussion eingebracht. Eine Ashramitin erwiderte ungläubig: »Hat Er das wirklich gesagt?« Nun, ich habe diese erhebenden Worte mit eigenen Ohren gehört.

»Sorge dich nicht, alles wird gut werden!«

«Don't worry, it will come!» – Wie oft sagte dies Shri Swamiji zu mir? Ich kann es nicht zählen. Meistens antwortete Er auf diese Weise nachdem ich Ihm, wieder einmal, gesagt hatte: »Ich bin so eine dumme Person«, oder nach meiner Frage: »Wie kann ein Mensch nur so dumm sein?« Und jedesmal lautete die Antwort: »Sorge dich nicht, alles wird gut werden!« Bei den ersten Malen schoss mir durch den Kopf: »Meine Klagen sind dem Meister zuviel; Er wimmelt mich jetzt mit diesem Satz ab«, denn das Es wird gut werden erschien mir in der jeweiligen Lage utopisch, unglaubhaft. Als sich jedoch das Sorge dich nicht häufte nahm ich an »Shri Swamiji glaubt wirklich, dass es mit mir noch etwas wird«; das war ein Trost in dunklen Stunden. Schließlich musste ich mir, nach einigen Video-Darshans in den folgenden Jahren eingestehen: Diesen Satz hat Shri Swamiji vermutlich allen Seinen Schülern gesagt, weil es das Grundsätzliche angeht: »Es ist eure eigene wahre Natur, es ist in euch; es wird und muss kommen. So, macht euch keine Sorgen!«

Träume

Von Kindheit an waren spirituelle Träume ein tröstlicher Gegensatz zur elenden Welt des Wachzustands. Seit 1980 drehen sie sich mehr und mehr um Shrî Svâmîji, besonders intensiv nach dem Mahâsamâdhi (mahâsamâdhi = wenn ein Erleuchteter diese Welt verlässt). Einer dieser Träume sei angeführt, weil er sehr einfach zu deuten ist. Da er auch von anderen Schülern handelt, ist er kein Geheimnis; ich finde, es ist eine gute Lektion für mich und für Schüler generell und eine Anregung, Vertrauen zu entwickeln:

Ich stehe am Fuße eines sehr hohen Berges und beginne den Aufstieg. Ich schaue auf den schneebedeckten Gipfel: Dort will ich sein. Anfangs geht es schnell nach oben; ich genieße die noch grüne Landschaft weit unter mir, aber je höher es geht, desto nackter der Berg, und schließlich gibt es nur noch Schnee und Eis. Ständig mache ich Pause weil ich erschöpft bin und kämpfe mich dann weiter. Irgendwann hänge ich an einem Kamm; auf der einen Seite geht es in ein weites Schneefeld, auf der anderen in eine tiefe schwarze Schlucht. Ich biete alle Kräfte auf, um nicht in das Dunkel zu stürzen, klammere mich in den Schnee. Nach weiteren erfolglosen Versuchen weiterzukommen hänge ich hilflos am Kamm, es geht nicht weiter hinauf noch kann ich sicher wieder zurück, denn ein heftiger Wind droht mich ins schwarze Nichts zu reißen. Im Moment der größten Verzweiflung sagt eine innere Stimme: »Geh nach links in das Schneefeld und schaue!« Ich gehe vorsichtig, Schritt für Schritt vom spitzen Kamm weg und tatsächlich, nach kurzer Zeit erreiche ich ein riesiges, sonnendurchflutetes Schneefeld. Zu meinem größten Erstaunen stehen dort Hunderte von Leuten in einer Schlangenlinie, Richtung Gipfel, alle halten sich an einem endlos langen Seil fest. Ich sage zur Stimme: »Was tun die Leute da?« Die Stimme: »Sie gehen zum Gipfel.« Ich erwidere: »Das können sie nicht, ebensowenig wie es mir gelingt!« Die Stimme: »Nein. Sieh doch, wie leicht sie den steilen Weg nach oben schaffen!« Ich: »Wie ist das möglich?« Die Stimme: »Schau auf den Gipfel, dann weißt du es.« Mein Blick geht ganz nach oben, an die höchste Stelle. Dort, welch wundervoller Anblick, sitzt Shri Swamiji und hält ebenfalls das Seil in Seinen Händen. Die Stimme sagt: »Siehst du? Alle diese Menschen kämpfen sich nicht von alleine hoch, sie werden vom Meister hochgezogen; sie kommen schnell und sicher an ihr Ziel!«

Daraufhin musste ich weinen. Und die Seligkeit war derart groß, dass es wohl für den Körper zuviel war, ich erwachte.

Die Katastrophe, 1985

1981 hatte ich Shri Swamiji mit der Idee eines Lebens auf dem Lande belästigt und Seine ablehnende Haltung nicht verstanden. Die Idee reifte weiter, trotz des Meisters negativer Reaktionen. Wobei es nicht Ablehnung war; zurückblickend habe ich den Eindruck, dass Shri Swamiji kommen sah was kommen musste und die Sache mir zuliebe vor sich herschob, anders kann ich es nicht ausdrücken. Jedenfalls fuhren wir im Herbst 1984 nach Südfrankreich auf die Suche nach einem Haus. Wir fanden erst einmal nichts. Wenn ich an diese beschwerliche Reise denke muss ich mich fragen, ob ich damals Herr meiner Sinne war. Wieviel Stress, welche Energieverschwendung, anstatt sich auf die Hauptsache, auf ein ordentliches Sâdhana (geistige Übungen) zu konzentrieren! Ein weiterer mich später sehr belastender Faktor war die Tatsache, dass meine Lebensgefährtin gewiss nicht Ihretwegen, sondern mir zuliebe mitmachte.

Frühling 1985. Wir fuhren für einen einzigen Tag nach Gylling, um den Meister zu sehen. Es war eilig, da meine Lebensgefährtin an einen Termin gebunden war, zu dem sie ihre Arbeitsstelle kündigen konnte. Und wir wollten den Segen des Meisters für das Vorhaben: Kündigung und dann nach Frankreich. Im Rückblick – leider erst im Rückblick – bleibt mir das Gesicht von Shri Swamiji unvergesslich, als wir unser Anliegen vortrugen (es war als ob Er denken würde: »Jetzt gibt es nichts mehr hinauszuzögern, wir müssen den Dingen ihren Lauf lassen …«). Am Ende verschränkte Er die Finger im Schoß, sah nach unten und sagte mit leichtem Seufzen: »Also gut, fahrt nach Süden und sucht euer Haus.« Wir fuhren in Hochstimmung zurück, meine Lebensgefährtin kündigte. Die Kündigung der sicheren Arbeitsstelle geschah zum größten Teil aufgrund meines Einflusses und hat entscheidend den negativen Verlauf der nächsten 25 Jahre bestimmt.

Kurz: Wir fanden ein Haus in Ostfrankreich (nicht im Süden), und meine Lebensgefährtin kaufte es. Und in dem Augenblick wo es geräumt war und ich in dem leeren Gebäude stand kam eine dunkle Ahnung auf: großer Fehler! Was genau es war konnte ich nicht sagen, aber einige Zeit später brachte es Shri Swamiji auf den Punkt (»du wirst dort gefangen sein«). Ich verbrachte allein eine Nacht im Haus, es war furchtbar. Ich musste die ganze Zeit an den Meister denken, und wie ich wenige Wochen später begriff, war Shri Swamiji in dieser Nacht anwesend! Am nächsten Morgen sagte ich einer schockierten Lebensgefährtin, dass wir das Haus wieder verkaufen sollten. Der Makler, der es uns vermittelt hatte und den wir jetzt um den Wiederverkauf baten dachte gewiss, er hätte es mit Verrückten zu tun. Zunächst blieb sein Satz hängen: Bei der gegenwärtigen ökonomischen Lage würde es schwierig werden mit dem Verkauf, wir hätten uns zumindest auf eine lange Zeit einzurichten.

Mittlerweile war es Sommer, und wir fuhren ins Yoga-Camp nach Gylling. Beim ersten privaten Darshan war es nicht nötig, dem Meister die Situation zu schildern, denn Er äußerte sich so, dass mir klar wurde: Shri Swamiji war die ganze Zeit bei uns, als ob Er uns beobachtet hätte.

Die nächsten Wochen waren schlimm, und ich ging mit Widerwillen zum Darshan, denn ich machte den Meister verantwortlich für das, was geschehen war. Selbst hier versuchte Shri Swamiji positiv einzugreifen. Irgendwann sagte Er, nachdem ich mich verbeugt hatte: »Wenn du über einen Menschen verärgert bist, verlasse diesen Platz, oder fahre fort mit der Wiederholung des Mantra.« Ich war dermaßen im Tamas (»Finsternis, Verblendung«), dass ich nicht einmal diese Hilfe verstand. So ging es wochenlang, ohne von Shri Swamiji einen definitiven Hinweis zu der Sache mit dem Haus zu erhalten.

Ich hatte tagsüber und nachts genügend Zeit, mich mit der Sache zu beschäftigen, und irgendwann dachte ich, die Lösung gefunden zu haben: Schaue dem ins Angesicht, arbeite es aus! So ging ich am nächsten Morgen erstmals lächelnd zum Darshan und sagte: »Ich bin entschlossen mich der Verantwortung zu stellen. Ich werde in dieses Haus nach Frankreich ziehen und dort bleiben.« Ich war ehrlich überzeugt, die Zustimmung des Meisters zu erhalten. Umso größer der Schock über Seine Antwort: »Nein, geh da nicht hin. Du wirst dort gefangen sein. Bleibe da, wo du jetzt bist.« Ich dachte, ein Blitz hätte mich getroffen. Als ich das Guru-Kutir verließ ging die Welt unter, die Verwirrung war so groß wie nie. Und das »verärgert sein« ging weiter.

Nach dem Sannyâsa Day fuhren wir zurück nach Deutschland. Es folgte der schlimmste Winter meines Lebens. Meine Lebensgefährtin hatte einige Gelegenheitsarbeiten und war häufig in Frankreich bei ihren Eltern. Ich war in Karlsruhe, ging meinem Beruf als Musiklehrer nach und lebte yogamäßig im Chaos. Ich wollte vom Meister weg; gleichzeitig war mir bewusst: Der Yoga ist die höchste Lehre, und unter den Yogas ist Shri Swamijis Lehre der höchste Yoga, wie sollte ich da wieder zurück zum Buddhismus oder anderen Lehren? In dieser Zeit lenkte mich meine Übersetzung der Bhagavad-Gîtâ positiv ab, das war eine große Hilfe. Insgesamt war mein Verhältnis zum Meister sehr getrübt. Leider habe ich mich, als es mir extrem schlecht ging, eines Tages dazu hinreißen lassen, dem Meister einen Brief zu senden in dem ich schrieb, dass ich für meine Fehler selbst verantwortlich bin und entsprechend bezahlen würde, dass ich es aber nicht verstehen konnte, dass Er meine Lebensgefährtin nicht vor mir geschützt hatte. Welche Dummheit, einen solchen Brief zu schreiben und dem Sadguru einen derartigen Vorwurf zu machen, denn einige Jahre früher hatte Shri Swamiji, als sie Ihm geschrieben hatte, dass sie kündigen und zu Ihm nach Indien fahren wollte, sie brieflich ausdrücklich ermahnt, nicht zu kündigen. Wie gesagt, ich war in totaler Verblendung, im Nachhinein unvorstellbar.

Was mich ebenfalls (unter anderem) schlaflose Nächte kostete war eine Aussage des Meisters in The Universal Religion: »Egoistisch gegen den Guru zu revoltieren bedeutet den spirituellen Untergang des Schülers. Das steht fest und wir haben viele Fälle dieser Art gesehen.« Ich war mir dessen bewusst und hatte dennoch nicht die Kraft, mich in Demut an den Meister zu wenden.

Essenz der schrecklichen Zeit (1985 und folgend)

Meine Lebensgefährtin hatte eine gutbezahlte und sichere Arbeit in Karlsruhe und hätte dort die nächsten 20 oder 30 Jahre bleiben können. Ich hatte das Glück, Musiklehrer zu sein. Wir hatten keine speziellen Probleme. Wir hatten einen Erleuchteten getroffen und hätten ein ruhige, friedliche und sinnvolle Existenz haben können, gemäß den unsterblichen Worten von Shri Swamiji: »Lebt ein reines, einfaches und heiliges Leben.«

Stattdessen dies: Meine Lebensgefährtin war arbeitslos und hatte in Frankreich ein Haus, welches eine große finanzielle und seelische Last war. Sie musste dann nach Luxembourg ziehen, wo sie tapfer ihrer neuen Arbeit nachging , sich liebevoll um ihre betagten Eltern in Frankreich kümmerte  und mich in Deutschland zweimal im Monat besuchte.  Um nur von mir zu sprechen, die ständigen »Hallos« und »Auf Wiedersehen« in den nächsten 24 Jahren waren schmerzlich. Ich selber war ab 1988 nicht mehr fähig, Musiklehrer zu sein, lebte von Gelegenheitsarbeiten und von der Hilfe meiner Gefährtin , und fiel in eine tiefe Depression. Statt eines Sâdhanas ging es schlicht ums Überleben.

Ich machte Shri Swamiji für all dies verantwortlich. Mein großer Vorwurf war: An jenem bestimmten Tag hätte Er nicht sagen sollen: »Also gut, fahrt nach Süden und sucht euer Haus.« Er hätte sagen müssen: »Seid ihr verrückt? Gebt eure Arbeit nicht auf, bleibt wo ihr seid und kümmert euch um euer Sâdhana!« Aber wie gesagt, die Verantwortung auf den Guru zu schieben war Dummheit.

Erst viele Jahre später begriff ich: Heilige, Erleuchtete, ja, Gott selbst können alles – nur nicht in den freien Willen der Menschen eingreifen. Ein Meister versucht den Schüler zweimal, dreimal … auf einen Fehler hinzuweisen und ihn in eine andere Richtung zu lenken. Ist der egozentrische Schüler jedoch hartnäckig und folgt den Anweisungen des Gurus nicht, dann »darf der Schüler machen, was er will« und hat die Folgen seiner Handlungen insgesamt selbst zu verantworten.

Ich hätte das eigentlich wissen müssen, denn bei meiner Übersetzung der Shrîmad-Bhagavad-Gîtâ stieß ich ja auch auf den berühmten Vers XVIII.63, wo Shrî Krishna (Gott) zu Arjuna sagt:

»So wurde dir dieses Wissen, geheimer als das Geheime, von Mir verkündet.
Nachdem du all dies gründlich überdacht hast, handle so, wie du willst!«

Göttliche Bhagavad-Gîtâ! Es ist an sich alles so klar wie ein funkelnder Bergkristall. Aber im Zustand der Verblendung, des Egoismus, verwandelt sich die Klarheit in tiefstes Dunkel.

Um wieder nur von mir zu sprechen: Ich ging zwar nicht vor die Hunde, aber ich landete im Chaos. Es war ein Desaster im Sinne des Yoga (Ärger über den Guru, schwere Zweifel, so dass sogar die Wiederholung des Guru-Mantra schwierig war; keine wirkliche Meditation; Verlust jeglicher Disziplin, und so weiter), und es war ein Desaster im weltlichen Sinne. Wer den Yogapfad verlässt verliert zwei Dinge, die spirituelle Welt und die normale Welt, in die er nicht mehr zurück kann. Keinerlei Freunde in dieser Zeit, in Isolation und Verzweiflung lebend. Wertvolle Zeit verloren, wertvolle Energie verloren, riesiger chronischer Stress mit negativem Einfluss auf die körperliche und geistige Gesundheit … Ich verlor fast alles, und es ist seltsam genug, nein, es muss ein Wunder sein, dass ich dennoch irgendwie auf dem spirituellen Pfad blieb.

Was meine ich mit »Wunder«? Zuallererst muss es so gewesen sein, dass trotz meines Entschlusses, Shri Swamiji zu verlassen, der Meister »mich hielt«, gemäß den unbeschreiblich tiefgründigen Worten des indischen Wunderheiligen Shri Neeb Karori Baba Maharaj: »Du kannst mich verlassen. Ich werde dich nicht verlassen. Wenn ich dich einmal halte, lasse ich nicht mehr los.« – die unergründliche Größe des Sadgurus.

Du kannst mich verlassen. 
Ich werde dich nicht verlassen. 

Wenn ich dich einmal halte, lasse ich nicht mehr los.«
Shrî Nîb Karorî Bâbâ Mahâraj
[*?–†1973]

Zweitens ist es kristallklar, dass ich ohne meine Lebensgefährtin vollständig aufgegeben hätte, in jeder Hinsicht.

Drittens, es gab noch diese Liebe zum Yoga (generell gesagt). Nun war es erneut nur die Philosophie (wie vor dem Zusammenkommen mit Shri Swamiji). Aber selbst diese theoretische Seite war ein kleines Licht in der Dunkelheit. Ich verbrachte viel Zeit mit der Übersetzung der Bhagavad-Gîtâ und des Yoga-Sûtra. Mit meiner Tätigkeit als Yogalehrer (siehe weiter unten) begann ich dann ein umfangreiches Buch über den Hatha-Yoga zu schreiben, es dauerte 20 Jahre bis zur Vollendung. Die Konzentration auf diesen Stoff während meiner Forschungsarbeit war die dritte Hilfe, da sie eine positive Ablenkung darstellte.

Was habe ich aus all dem gelernt?

Nun, ich habe am Ende die Essenz der Essenz begriffen – man soll nicht selbstsüchtig sein. »Der Gedanke an ›Ich‹ und ›Mein‹ muss verschwinden, der Gedanke an ›Du‹ und ›Dein‹ seine Stelle einnehmen« (Shri Swamiji in The Secrets of Mind-Control). Es ist wichtig, nicht zu nehmen, sondern zu geben; nicht bedient zu werden, sondern zu dienen; nicht um meinetwillen zu wünschen, denken und handeln, sondern für das Wohlergehen der anderen. Es ist so einfach, aber oft versteht man dies erst, nachdem man genug gelitten hat.

Das Wunder, 1986

Es nahte der Sommer 1986. Ich war mittlerweile entschlossen, die Sannyâsa-Kleider (symbolisch) zurückzugeben und Shri Swamiji Adieu zu sagen. In diesem schwärzesten Augenblick war es die Gnade des Meisters auf dem Umweg über meine Gefährtin , die mein Leben rettete. Sie sagte: »Ich verstehe, dass du nicht nach Gylling willst, aber ich muss hinfahren!« Und sie fuhr. Und kam bereits eine Woche später zurück. Um mir zu berichten dass Shri Swamiji nach mir gefragt hatte, was Er über mich gesagt hatte, und dass Er dabei traurig zu sein schien. Das war zuviel; ich fühlte mich beschämt und beschloss, mich »wenigstens anständig« vom Meister zu verabschieden. So fuhren meine ergreifend treue Gefährtin  und ich umgehend, zwei oder drei Tage später nach Gylling.

Ich war extrem nervös vor dem ersten Darshan, aber Shri Swamiji kam mir wundervoll entgegen. Bevor ich nach der Verbeugung ein Wort sagen konnte, sprach Er: »Lass uns morgen darüber reden!« Ich war sehr erleichtert und durfte gehen. Wieder ein Tag und eine ganze Nacht zum Überlegen. Und das erste Wunder am nächsten Tag. Vor meiner Verabschiedung wollte ich erst um Verzeihung für mein Handeln bitten. So begann ich mit jenem Satz, den ich dem Meister in acht Jahren am häufigsten gesagt habe: »Ich bin ein sehr dummer Mensch …« Shri Swamiji war todernst, als Er meine Entschuldigungsbitte und den Rest anhörte. Und während ich sprach, löste sich etwas in mir, brach mein Widerstand. Nachdem ich aufgehört hatte zu sprechen sagte Er »Es ist in Ordnung«, gab mir ein Prasâd und ich ging. Erneut vergingen ein langer Tag und eine lange Nacht … Beim dritten Darshan schließlich das zweite Wunder. Kaum hatte ich mich verbeugt, sagte der Meister: »Alles was bis jetzt geschehen ist … das ist nichts.« Dabei fuhr sein rechter Arm durch den Raum, als ob Er etwas vom Tisch fegte. Da fiel er mir wieder ein, der Satz »gegen den Guru zu revoltieren bedeutet den spirituellen Untergang des Schülers«, und ich verstand, dass der Meister mir verziehen hatte. Ich musste dann draußen weinen. Und plötzlich war sie wieder da, die Liebe und Hingabe an Shri Swamiji. Entsprechend harmonisch verliefen die letzten Darshans des Monats August 1986. Wir hatten dann noch die Gnade, die Einweihung des neu errichteten Mantra-Kutirs miterleben zu dürfen, auch ein Wunder.

Es heißt, dass ein Guru dem Schüler jenen Teil des Karma abnimmt, welches das größte Hindernis für einen geistigen Fortschritt wäre. Shri Swamiji beseitigte einen solchen Berg von schlechtem Karma bei Mantra-Dîkshâ 1980 – tausend Leben würden nicht reichen, um Ihm dafür zu danken. Und jetzt das zweite Mal nach meiner Revolte.

Trotzdem, einiges Karma verbleibt, und das muss der Schüler austragen. So war es auch in unserem Fall. Meine Lebensgefährtin fand wieder eine gute Arbeit. Allerdings in Luxembourg, so dass wir die nächsten 24 Jahre praktisch getrennt lebten, wir sahen uns ein- bis zweimal im Monat. Überraschend schnell gelang es, das Haus zu verkaufen. Mein »Rest des Karma« bestand in einer dann folgenden tiefen Depression, die über viele Jahre ging, schier endlos. Als Musiker hörte ich in den nächsten zwanzig Jahren nie wieder irgendeine Musik, als Musiklehrer rührte ich nie wieder mein Instrument an und musste als logische Konsequenz meinen Beruf aufgeben. Eine schreckliche Zeit.

Ein weiteres Wunder, 1989

1989, ein Jahr nach dem Weggang des Meisters, erhielt ich in Karlsruhe einen mysteriösen Telefonanruf: Wo ich denn bliebe, man vermisse mich in Gylling, dabei sei ich doch auf der Anmeldungsliste (?) für die Hatha-Yoga-Lehrerausbildung, welche gerade begonnen habe. Wenn etwas feststand, dann dies: Ich hatte mich nicht für eine Ausbildung angemeldet, ich wusste von nichts. Dennoch fuhr ich nach diesem seltsamen Anruf zwei Tage später nach Gylling … Wie ich oben schrieb, musste ich in der Zeit der großen Krise meinen Beruf als Musiklehrer aufgeben. In den Jahren 1987 bis 1991 lebte ich von Gelegenheitsarbeiten. Da ich eine Hatha-Yoga-Ausbildung nie in Betracht gezogen hatte und vor allem in diesem Jahr 1989 nicht der geringste Gedanke diesbezüglich in meinem Geist war, kann das nur ein himmlisches Geschenk von Shri Swamiji gewesen sein, im Sinne von: »Du kannst kein Musiklehrer mehr sein? Dann werde Yogalehrer!« Ich absolvierte die zweijährige Ausbildung und bin seit 1991 hauptberuflich Yogalehrer.

Letzter Sommer mit Shri Swamiji, 1987

1980 sagte ein strahlender Swamiji zum Abschied in Blansingen dreimal zu mir: »Sei stark!« Es war wohl ein gutes Potential in mir, und der Meister wollte mich ermuntern. Im Jahr 1983 war es ähnlich: Ich hatte zur Vorbereitung auf Shri Swamijis Aufenthalt in Blansingen zwei Wochen (oder waren es drei Wochen?) gefastet, viel Sport getrieben usw. Als der Wagen mit dem Meister in Blansingen eintraf, stand ich mit vielen anderen im Gang des Âshrams. Shri Swamiji trat ein, ging einige Meter und stoppte – mir blieb fast das Herz stehen – direkt vor mir. Er sah mich an, ich konnte Seinen Blick kaum ertragen. Und ich hatte den Eindruck, daß Er sehr zufrieden mit meinem Zustand war. So wie 1980 war es dann auch hier: Als Er sah, dass ich zu Boden schauen mußte, wandte Er sich ab und ging weiter in das Guru-Kutir.

1987: welcher Unterschied. Beim ersten privaten Darshan nach unserer Ankunft ging ich in das Guru-Kutir und verbeugte mich. Shri Swamiji war anders als sonst, äußerst zurückgezogen. Bevor ich ein Wort sagen konnte, kam erneut sein liebevolles »Und?«. Spontan kam in diesem Augenblick der Gedanke an das »Sei stark!« von 1980. Nur dass ich jetzt nicht Dinge sagte wie »ich werde fleißig meditieren« oder Ähnliches, sondern: »Ich möchte die Zeit im Camp nutzen um mich vom Chaos, vom Energieverlust der letzten Jahre zu erholen.« Schon beim Sprechen dieser Worte war ich beschämt und dachte: Soweit ist es gekommen, dass du dich in einem Yoga-Camp erholen musst! Shri Swamiji lächelte dennoch und sagte in Seinem nie versiegenden Verständnis sanft: »Es ist in Ordnung.« Ich aber war sehr traurig. Zumal es der letzte Sommer vor dem Mahâsamâdhi, dem Abschied eines Erleuchteten von dieser Welt war.

»Das letzte Foto«
Shri Swamiji, Gylling 1987

©N.U.Yoga Trust Gylling

Ein Gurubhai schrieb mir kürzlich über das Yoga-Camp: »Das waren wundervolle Tage.« Beim Lesen dieser Worte kam urplötzlich die Gylling-Schwingung über mich wie ein Schwall in einem Wasserfall, ich musste weinen. Erstens, weil diese Tage in der Tat wundervoll waren. Zweitens, weil sie nie mehr wiederkommen werden, so ist das Leben. Drittens, weil mir in diesen Tagen vergleichsweise selten zu Bewusstsein kam, wie wundervoll sie waren; den größeren Teil der Zeit folgte ich den Torheiten und Launen meines Egos und machte haarsträubende Fehler.

Je näher das Ende des Yoga-Camps, der Sannyâsa Day kam, desto deutlicher wurde die Zurückgezogenheit des Meisters. Zeichen des Abschieds? Ich war unsicher. Meine persönlichen Darshans dauerten jeweils nur wenige Sekunden; Shri Swamiji gewährte mir Seinen liebevollen Blick und gab mir schweigend das Prasâd.

Noch einmal durfte ich eine besondere Minute erleben. Ein älterer Besucher erhielt Mantra-Dîkshâ, und ich wurde gebeten, ihn als Übersetzer zu begleiten. Er hatte sich schon viele Jahre mit Meditation beschäftigt. Ein oder zwei Tage nach der Einweihung kam er zu mir und bat mich, ihn ein weiteres Mal zum Meister zu begleiten, er hätte ein beunruhigendes Problem: Während der Meditation verspüre er eine brennende Empfindung in der Mitte der Brust. Ich übermittelte dem Meister die Frage. Shri Swamiji schaute uns liebevoll an, öffnete die Arme in Seinem Schoß mit nach oben zeigenden Handflächen und sagte strahlend und mit Nachdruck: »Es ist natürlich!« Ein großer Segen.

Am Sannyâsa Day, als das Gruppenfoto der neuen Mönche und Nonnen mit dem Meister in der Meditationshalle aufgenommen wurde, fiel es Shri Swamiji sehr schwer zu sprechen; bereits diese extreme Zurückgezogenheit war ein intensives Erlebnis für mich. Dann das nächste: Der Fotograf bat viele Anwesende, sie sollten zur Seite treten, weil auf dem Foto nicht alle Platz haben konnten. Als Shri Swamiji sah, wie die Hälfte der Leute in den Hintergrund ging und dass sogar welche außerhalb der Halle standen, sagte Er – ich muss das so ausdrücken – unter großer Anstrengung: »Nein, alle müssen auf das Bild.« Der Fotograf widersprach ein- oder zweimal, das ginge dann aber nicht. Shri Swamiji erneut: »Nein. Alle.« Daraufhin rückten wir alle ganz eng zusammen, es war eine wundervolle, andächtige Stimmung im Raum.

Bei meinem letzten privaten Darshan ahnte ich – befürchtete ich – dass ich Shri Swamiji nicht mehr in Gylling sehen würde (ich hatte allerdings die Vorstellung, dass der Meister noch eine Weile in Indien zu erreichen sein würde). Ich hatte mir erhofft, dass Er einige persönliche Worte an mich richten würde. Es war aber wie meistens: Ein liebevoller Blick, noch einmal eine Sekunde Kontakt, als Seine Hand mir das Prasâd reichte. Ich wusste aus der Lektüre der Schriften: »Die großen Heiligen gehen in aller Stille, unbemerkt von der Welt.« Jetzt lebten diese Worte, sie waren Wirklichkeit geworden.

Shri Swamijis Mahâsamâdhi, Februar 1988

mahâsamâdhi oder parinirvâna = wenn ein Jîvanmukta (»der zu Lebzeiten Befreite«) seinen Körper verlässt, um in das All-Eine einzugehen.

Wir erhielten die Nachricht vom Mahâsamâdhi des Meisters (26. Februar 1988) per Telefon vom Leiter des deutschen Ashrams. Ein riesiger Schock, und die erste, spontane Schwingung im Geist war: Ist Shri Swamiji »ganz« gegangen, hat Er sich in der Unendlichkeit aufgelöst und wir bleiben alleine zurück? Diese Frage ist nicht ein Zeichen mangelnder Hingabe oder von Zweifeln, sondern ganz normal, wie die Geschichte zeigt; beispielsweise fragten sich bereits vor 2500 Jahren die Jünger des Buddha nach dessen Parinirvâna das Gleiche. Umgehend erschien das Yoga Magazine (1/1988) mit dem Darshan »Hilfe nach dem Mahâsamâdhi«. Die wichtigsten Sätze daraus waren für mich:

Schüler: »Würde Guruji mir bitte sagen, ob der Jîvan-Mukta (der Lebend-Befreite), nachdem er den Körper verlassen hat, weiterhin Seine Schüler begleiten wird, von einer höheren Ebene der Existenz aus?«

Shri Swamiji: »Wenn der Schüler Ihn will, wird Er immer mit dem Schüler sein. Wenn der Schüler Ihn nicht will, wird Er verschwinden.«

Schüler: »Dann wird Er ewig existieren?«

Shri Swamiji: »Ja, solange der Schüler existiert, wird Er existieren. Solange die Schüler Ihn nicht vergessen, wird Er immer mit ihnen sein.«

»Solange der Schüler existiert, wird Er existieren.
Solange die Schüler Ihn nicht vergessen,
wird Er immer mit ihnen sein.«
©N.U.Yoga Trust Gylling

Jetzt galt es erst recht, die Worte »Dein eigenes Selbst« zu verinnerlichen. Dennoch, es war und ist schwierig. Welch unbegreifliches Glück hatten wir, welche Gnade war uns beschieden, dem Erleuchteten zu Lebzeiten begegnen zu dürfen! Vieles war so einfach, was dann später mehr Glauben und Hingabe erfordert.

Meine Lebensgefährtin arbeitete weiterhin in Luxembourg (bis 2009), ich war seit 1991 Yogalehrer in Karlsruhe, lange Jahre in öffentlichen Gebäuden (Schulen, Krankenkassen) und erst viel später, dank der Hilfe meiner Lebensgefährtin, in der eigenen Yogaschule. Wir nahmen monatlich an den Satsangas in den Âshramas in Blansingen und Burgberg teil, fuhren jedes Jahr nach Gylling zu Shri Swamijis Geburtstag und, solange es dort angeboten wurde, zur Feier des Gurupûrnimâ.

Privat sahen meine Lebensgefährtin und ich uns 24 Jahre lang zweimal im Monat. Eine schwierige Zeit. Auch hier erwies sich meine Lebensgefährtin als fest verankert in Shri Swamiji. Ihr unablässiger Trost half mir in den Depressionsphasen.  Eisern drängte sie auf die monatlichen Satsangas; ohne meine Lebensgefährtin hätte man mich in Blansingen und Burgberg nie mehr gesehen. 

2015 musste sich meine Lebensgefährtin einer Operation am offenen Herzen unterziehen. Sie hatte sich lange vorher durch Mantra-Japa (mantra-japa = Wiederholung des Mantra) und Autosuggestionen gestärkt und dann alles so tapfer gemeistert. Am Morgen der Operation, als sie in den Vorbereitungsraum gefahren wurde, richtete sie sich von weitem in den letzten Sekunden im Bett auf und sagte zum Abschied zu mir: »Mantra-Japa!« Welch faszinierende, wundervolle Seele.  Dann verschwand sie hinter dem Vorhang. Auch dieses Bild werde ich nie mehr vergessen. Shrî Svâmîji war bei ihr, davon bin ich überzeugt. Die Operation glückte, sie erholte sich gut. Aber all dies hat mich tief getroffen, insbesondere die Umstände vor der Operation.

Anmerkungen

»Kraft ist Leben, Schwäche ist Tod.« Wie oft zitierte der Meister diese berühmten Worte von Swami Vivekananda? In guten Zeiten waren sie motivierend, in schlechten entmutigten sie. Ich habe mich nur kurze Zeit stark gefühlt. Es gehört zur Naivität des Anfängertums zu glauben, dass der Samâdhi eine Sache von wenigen Monaten oder Jahren ist. Meine Fehler waren energiezehrend, Shri Swamijis »Sei stark!« bleibt nach wie vor eine Aufforderung.

Von allen Erleuchteten hören wir: »Erreicht den Samâdhi in diesem Leben!« Auf der anderen Seite sagte Shri Swamiji: »Die Zahl solch großer Seelen, die zum Nirvikalpa-Samâdhi streben und ihn erreichen, kann an den Fingern abgezählt werden.«

Es gibt aber auch diese wichtigen, ebenfalls von Swâmî Nârâyanânanda stammenden Worte: »In seiner Unwissenheit glaubt der Mensch, dass er alles und jedes tun kann. Zu Beginn des Lebens ist er sehr optimistisch in seinen Ansichten und stolz auf die kleinen Häppchen von Erfolg, die seine Bemühungen begleiten. Nach einiger Zeit erhält er Tritte von verschiedenen Seiten, steht Misserfolgen, Störungen und Widerwärtigkeiten gegenüber und erkennt durch Leiden seine Fehler und Schwächen. Dann beginnt er langsam aber stetig, sich auf Gott zu richten und um Hilfe und Führung zu beten. So kommt es, dass ein Mensch erst nach vielen Anstrengungen und Fehlern wirklichen Glauben an Gott entwickelt und Selbsthingabe übt.«

In einem Video-Darshan hörte ich, wie Shri Swamiji über eine Person sprach mit dem Satz: »… Er gehört zu den nichtmeditierenden Schülern.« Hört man in diesem Augenblick auf den Tonfall des Meisters, schaut man in Sein Gesicht, so zeigt sich: Er sagte es nicht kritisch oder abwertend, vielmehr liebevoll. Shri Swamiji war offiziell sehr streng, aber Er hatte Verständnis für alles. In den Schriften wird der Guru kripâ-sâgara, »Meer der Gnade« genannt; zahllose Schüler vieler Meister wissen darüber ergreifende Geschichten zu erzählen.

Guru-Gîtâ: dhyânamûlam gurormûrtih, die Wurzel (Grundlage) der Meditation ist die Gestalt des Gurus; pûjâmûlam guror padam, die Wurzel der Verehrung, die Füße des Gurus; mantramûlam gurorvâkyam, die Wurzel der Mantras, das Wort des Gurus; mokshamûlam guroh kripâh, die Wurzel der Erlösung, die Gnade des Gurus.

»Alter bedeutet Elend«, hörte ich Shri Swamiji sagen. Zu Zeiten meines Studiums der Schriften waren die Begriffe »Alter, Krankheit, Tod« gelehrte, tote Worte; jetzt sind sie Wirklichkeit, und ich wäre glücklich, könnte ich die Widrigkeiten des Lebens »geduldig ertragen«, wie Shrî Krishna in der Bhagavad-Gîtâ sagt.

Der Meister sagte: »Nur wahre Helden und Heldinnen können ihre eigene wahre Natur erkennen.« Ich habe die unbegreifliche Ehre, Schüler eines Erleuchteten zu sein; zu den Helden gehöre ich nicht. Wie hoch auch meine Gedanken gegangen sein mögen, das Leben holte mich zurück an den mir gebührenden Platz. Jetzt versuche ich, mich an diese Worte von Shrî Svâmîji zu halten: »Sei freundlich zu allen Wesen, liebe alle und diene allen soweit es dir möglich ist.«

Andererseits darf ich zahlreiche spirituelle Träume erleben, viele mit Shri Swamiji. Und im Wachzustand habe ich praktisch ständig den Meister vor Augen. Vielleicht ist dies Seine Art, mich auf dem Weg zu halten.

In seinem berühmten Gurvasthakam zählt Shrî Shankarâchârya alle Dinge auf, die wir als Glück empfinden: ein kräftiger, gesunder Körper; Wohlstand; glücklich in der Familie; Freunde; ein rechter Wandel; Kenntnis der Schriften; Ruhm … Und bei allen acht Versen gibt es den Refrain: »Wenn aber der Geist nicht an den Lotusfüßen des Guru hängt, wozu dies alles? Wozu? Wozu? Wozu?«

Bhagavad-Gîtâ VIII.5–7: »Wer in der Stunde des Todes, wenn er den Körper verlassend von dannen geht, an Mich denkt, der geht in Mein Wesen ein; darüber gibt es keinen Zweifel. An welchen Seinszustand auch immer er denkt, wenn er am Ende den Körper aufgibt, zu diesem allein geht er, weil er ständig in den Gedanken daran vertieft war. Denke darum zu allen Zeiten an Mich, und kämpfe!«

»Denke immer an Mich, und kämpfe!« Ob ich noch kämpfen kann weiß ich nicht. Aber diese Worte von Shri Swami Narayanananda bleiben unwiderstehlich und treffen mein Innerstes: »Öffne dein Herz, o Mensch! Atme Göttlichkeit frei ein und aus. Der Heilige Name, mit überströmender Liebe aus dem Innersten des Herzens gesprochen, zerstört Millionen und Milliarden von angesammelten Sünden aus Äonen von Geburten.«

Der spirituelle Pfad ist lang und beschwerlich, ich gehe sehr langsam voran. Wie oft tauchte der Gedanke auf »halt an und verlasse den Weg«, und wie oft kam eine Stimme, sei es aus dem Inneren oder von ferne, wie von einem Berggipfel ins Tal hinunterwehend, die mir sagte: »Gib nicht auf!« Durch gewisse Samskâras (geistige Prägungen aus früheren Leben) »wird man vorangetrieben, selbst ohne es zu wollen«, wie es in der göttlichen Bhagavad-Gîtâ heißt.

»Erinnere dich immer an den Guru!«

Vers 18 der Shrî-Guru-Gîtâ erscheint mir wie ein Pfeil, der in Richtung Ziel zeigt:

gurumûrtim smarennityam Erinnere dich immer an die Gestalt des Gurus / gurunâma sadâ japet wiederhole ständig den vom Guru gegebenen (göttlichen) Namen / gurorâjñâm prakurvîta folge den Anweisungen des Gurus / guroranyanna bhâvayet denke an nichts anderes als an den Guru. (18)


deshikam sadâ smaret

[Shrî-Guru-Gîtâ, 65]

Erinnere dich immer an den Guru!

♥ ♥ ♥

 

 

anekajanmasamprâpta karmabandhavidâhine |
âtmajñânapradânena tasmai shrîgurave namah ||
OM shântih shântih shântih

[Shrî-Guru-Stotra, 9]

Verehrung Ihm, dem strahlenden Guru,
der die Fesseln des in vielen Geburten angesammelten Karmas verbrennt,
indem er Selbst-Erkenntnis schenkt!
OM Friede! Friede!! Friede!!!



zurück an »Meine Geschichte …«

zurück an den Anfang

 

Bildnachweis
Shri-Yantra = ©Mahesh Patil/fotolia.com
Shri Ramakrishna = Wikimedia Commons, Bild von 1885
Swami Shivananda = von der Webseite rkmbaranagar.org
Swami Narayanananda, Cover »The Gist of Religions« = Foto von H. Maldoner
andere Bilder von Swami Narayanananda = ©N.U.Yoga Trust Gylling
Shri Nityananda von Ganeshpuri = Internet
Shri Sai Baba von Shirdi = Internet

»sarveshu kaleshu …« = www.shlokam.org
Shri Shankaracharya = Gemälde von Raja Ravi Varma, 1904
Rose = ©Phimak/fotolia.com
Shiva abhaya-mudrâ = www.subhavastu.com
Mount Kailash = ©tanukiphoto/iStockphoto.com
Meghashyâma = www.netglimse.com

Diese Seite wurde am 09.11.2025 zuletzt geändert.

Suchen ©2022 SCS